Lieber Nik,

wer wie ich in Ostdeutschland aufgewachsen ist, kann eigentlich nur schwer für Videoüberwachung an öffentlichen Plätzen sein. Beim Wort „Überwachung“ horchen nicht nur meine Eltern auf. Zu sehr erinnert es an die DDR, in der Überwachung häufig mit dem Drang nach Sicherheit erklärt wurde. Letztendlich führte sie aber zur allumfassenden Beobachtung und Denunziation Unschuldiger durch die inoffiziellen Mitarbeiter der Staatssicherheit.

Aber: Die Zeiten haben sich geändert. Außerhalb von Diktaturen können öffentliche Orte durch mehr Kameras sicherer werden.

In der Debatte „Videoüberwachung: ja oder nein?“ geht es meist um zwei Aspekte: Sicherheit versus Freiheit. Das sind Begriffe, die emotional total überladen sind. Die Diskussion darüber wird deswegen auch viel zu sehr aus den eigenen Erfahrungen gespeist, und Gefühle spielen eine zu große Rolle. Wir müssen wieder rationaler argumentieren.

Die nackten Zahlen zeichnen übrigens ein klares Bild: Die Kriminologen Brandon Welsh und David Farrington analysierten 44 Studien zu Videoüberwachung. Sie kamen zu dem Schluss, dass die vielen Kameras für 51 Prozent weniger Verbrechen in Parkhäusern sorgen. Außerdem führten sie zu 23 Prozent weniger Delikten im öffentlichen Nahverkehr und zu immerhin sieben Prozent weniger in Stadtzentren. Und ich bin für weniger Verbrechen.

Viele Grüße,
Maria






„Öffentliche Orte können durch mehr Kameras sicherer werden.“

Lieber Nik,

du hast recht, Videoüberwachung dient auch laut Welsh und Farrington eher der Abschreckung bei kleineren Vergehen wie Diebstahl oder Sachbeschädigung. Selbstmordattentäter – ja, ich komme jetzt mit den härtesten Fällen – werden sich aus naheliegenden Gründen nicht durch ein paar Kameras aufhalten lassen. Im Nachhinein können jedoch schwere Verbrechen schnell aufgeklärt werden, wie das Bombenattentat beim Boston-Marathon. Kleine Straftaten werden also verhindert, große schneller aufgeklärt. Klingt doch gut, oder?

Im technischen Fortschritt sehe ich keine Gefahr, sondern eine Chance. Eine Studie des Sozialwissenschaftlers Dominic Kudlacek zur Akzeptanz von Videoüberwachung hat gezeigt, dass die Bevölkerung viel aufgeklärter über die Wirkung von Kameras ist, als wir vermuten. Eine plötzliche Angst vor ihnen und Zurückhaltung in ihrer Gegenwart scheinen mir unlogisch. Außerdem entstehen zurzeit transparente Überwachungssysteme, zum Beispiel am Fraunhofer-Institut: Über sein Handy soll jeder Interessierte herausfinden können, welche Daten eine Kamera erfasst und wer sie betreibt. So soll die Nützlichkeit verbessert werden und das Missbrauchsrisiko minimiert.

Deinen Schutzbrief für Freiheitsrechte finde ich gut, aber zu einfach gedacht. Jetzt schon regeln das Grundgesetz mit den allgemeinen Persönlichkeitsrechten und das Bundesdatenschutzgesetz, was nicht gefilmt werden darf. Dazu zählen unter anderem Umkleidekabinen, Duschen, Saunen, Toiletten, die meisten Arbeitsplätze und das Nachbargrundstück. Doch für viele ist diese Reglementierung nicht genug. Wo also die Grenze ziehen, was in diesen Schutzbrief aufgenommen wird und was nicht?

Fragt:
Maria





„Kleine Straftaten werden verhindert, große schneller aufgeklärt.“

Lieber Nik,

gut, lassen wir die Statistiken beiseite. Sie liefern kein genaues Bild der Situation und sind von dir und mir in die eine oder andere Richtung interpretierbar. Also zurück zu den Emotionen:

Da geht es auf der einen Seite um das Gefühl der subjektiven Sicherheit: Ich denke, wenn Kameras nur einem Menschen das Gefühl geben können, nachts in einem U-Bahnhof sicherer zu sein, dann hat Videoüberwachung ihre Berechtigung. Und auch wenn nur ein Verbrechen mehr durch Kameras aufgeklärt werden kann, finde ich die Aufzeichnungen gerechtfertigt.

Auf der anderen Seite geht es um das Gefühl des Überwachtwerdens, über das wir schon gesprochen haben. Dabei meine ich, dass die Leute Facebook oder Google bisher extrem furcht- und schamlos nutzen. Es ist kein Geheimnis, dass wir hier unsere Daten abgeben und intime Geheimnisse offenbaren. Wer sich bei Videokameras befangen fühlt, möge bitte prüfen, ob er hier nicht mit zweierlei Maß misst.

Und zu guter Letzt: Ich glaube immer noch an das Gute im Menschen. Videokameras nicht zu installieren, aus der Angst, dass damit Missbrauch betrieben werden könnte, halte ich für falsch. Horrorszenarien zu entwerfen und bei jeder Diskussion über Datenschutz auf George Orwells „1984“ zurückzukommen übrigens auch. Vielleicht besprechen wir das noch mal bei einem Bier.

Liebe Grüße aus Leipzig!
Maria







„Wer sich bei Videokameras befangen fühlt, möge bitte prüfen, ob er hier nicht mit zweierlei Maß misst.“



 

Maria Timtschenko lebt in Leipzig und schreibt für ZEIT im Osten und andere Medien über Gesellschaftsthemen
Nik Afanasjew lebt in Berlin, wo er als Reporter für fluter, DUMMY und andere Medien unterwegs ist



Illustrationen: Renke Brandt, Foto Maria: Uli Reinhardt, Foto Nik: Shoreesh Fezoni