Dies hier ist mein traurigster Eintrag bisher. Schon in Ghana habe ich Hitlers „Mein Kampf“ gelesen, außerdem Bücher, die das dunkelste Kapitel in der deutschen Geschichte aus heutiger Perspektive behandeln. Mir ging es dabei um Allgemeinbildung und darum, das Unfassbare zu verstehen. Aber Bücher zu lesen und Videos zu schauen ist das eine, das andere ist, genau dort zu sein, wo dieses Grauen stattfand.

Mir ist bewusst, dass die Nazizeit von den meisten Deutschen bedauert wird, dass es so etwas wie ein kollektives Schuldbewusstsein gibt und das Dritte Reich weiterhin ein sensibles Thema ist, über das sich Witze verbieten. Im Gegensatz zu Ghana: Bevor ich nach Deutschland flog, schickte mir ein Freund eine SMS, in der er danach fragte, ob ich denn in Berlin eine Hakenkreuzbinde tragen müsste. Smiley. Ein anderer Freund schickte mir Mails, die er mit „Adolf“ unterschrieb. Doppel-Smiley. Klar, sie meinten das lustig, aber wenn man Deutschland besucht, ist es das definitiv nicht mehr.

Plötzlich stand ich genau an dem Ort, wo die Peinigung und Terrorisierung so vieler Menschen stattgefunden hat

Ich habe mir in Berlin die Ausstellung im Dokumentationszentrum „Topographie des Terrors“ angeschaut, und was ich dort sah, hat mich mehr geschockt, als ich es erwartet hätte. Plötzlich stand ich genau an dem Ort, wo die Peinigung und Terrorisierung so vieler Menschen stattgefunden hat – auf dem Grundstück der „Topographie“ stand einmal das Gestapo-Hauptquartier. Die Vorstellung, dass dort im „Hausgefängnis“ Menschen gequält und entwürdigt wurden, machte mich richtig krank. Ähnlich habe ich mich damals gefühlt, als ich einige Sklavenforts in Ghana besuchte, wo Tausende in den Kerkern starben, bevor man die anderen nach Amerika verschiffte.

Als ich nun über das Gelände ging, kamen mir lauter Fragen in den Kopf: Ich habe die Deutschen als warmherzige, offene und höfliche Menschen erlebt, aber wo war diese Empathie, diese Menschenliebe damals? Wie konnte sich eine aufgeklärte demokratische Gesellschaft in so kurzer Zeit in ein Terrorregime verwandeln? Die Vorstellung, dass mich meine eben noch netten Nachbarn bei der Geheimpolizei anschwärzen und ich inhaftiert und allmählich ausgelöscht werde, erschütterte mich bis ins Mark.

Agomo Olympiapark

Afrikanischer Mann vor dem Berliner Olympiastadion

Deutschlands Nazivergangenheit ist gerade in Berlin an vielen Orten sichtbar. Zum Beispiel auch hier im Olympiapark

Dass es solche Orte wie die „Topographie des Terrors“ gibt, ist ein Trost. Oder auch das Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Die Verbrechen sind nicht vergessen, die Mahnmale sind eine ständige Warnung vor dem Rückfall in die Barbarei. Die ständige Aufarbeitung der Geschichte würde ich mir auch für andere große Verbrechen wünschen. Warum gibt es in den gesamten USA nur ein Museum, das sich allein mit Sklaverei befasst – und das auch erst seit gut anderthalb Jahren? Existiert in Belgien ein Mahnmal für die ermordeten Kongolesen? Selbst die Geschichtsschreibung ist häufig eurozentrisch und vergisst die afrikanischen Opfer.

Ich glaube, dass das monströse Verbrechen der Nazis den Blick auf andere dunkle Kapitel verstellt. In vielen Ländern lebt man gut damit, dass vor allem die Deutschen Ungeheuer waren. Man kann sich dann die Beschäftigung mit den eigenen Schandtaten ersparen. Auch wenn der Besuch unglaublich deprimierend war, würde ich gern viele Topographien des Terrors besuchen.

Agomo Atambire ist 27 Jahre alt und kommt aus Ghana, wo er in der Hauptstadt Accra Biotechnologie studiert hat. Zurzeit absolviert er ein sechswöchiges Praktikum in der Redaktion von fluter. Anschließend möchte er seinen Master machen, eventuell auch in Deutschland. 

Teil 1: Ein Mann sieht grün – Über Bäume, Pflanzen und CO2
Teil 2: Hartes Brot – Verwunderung über Essgewohnheiten
Teil 3: Wer raucht das schon – Ärger über zu viel Zigaretten
Teil 5: Love ist all around me – Küssen in der Öffentlichkeit
Teil 6: Korrekt gefeiert – Über Festivals, Müll und Dreadlocks

Übersetzung: Oliver Gehrs

Foto: Leon Reindl