Dreiundzwanzig kriegerische Konflikte in 500 Jahren, dazu zwei Weltkriege mit Millionen von Toten. Alle 20 Jahre ein neuer Krieg. Wer heute 80 Jahre oder älter ist, wuchs mit der steinernen Wahrheit auf: Der Franzose, das ist der Feind, und er wird es auch immer bleiben. Muss man nicht zwei Länder, die so oft miteinander kämpften wie Frankreich und Deutschland, als Erbfeinde bezeichnen?

Mit der Erbfeindschaft ist es wie mit so vielen Schlagwörtern: Sie schlagen, aber sie treffen oft nicht. Ein „Deutschland“ gab es nämlich in den vergangenen 500 Jahren lange nicht. Zwar herrschte ein Kaiser über das „Heilige Römische Reich Deutscher Nation“. Der aber kam meistens aus dem Haus Österreich, aus dem Adelsgeschlecht der Habsburger. Und überhaupt: Das Reich war eher ein Patchwork aus Hunderten von Klein- und Kleinststaaten mit je eigenen Zöllen, eigenen Maßeinheiten, eigenen Kriegen.

Nicht Deutschland, sondern das Haus Österreich galt daher lange als größter Gegenspieler Frankreichs. Meist versuchten französische Truppen, Territorien im Osten zu erobern, mit mehr oder weniger großem Erfolg. Das änderte sich auch nicht, als im frühen 18. Jahrhundert im Nordosten des Heiligen Römischen Reiches ein neuer Staat mächtiger und mächtiger wurde: Preußen. Noch war das Land eine Regionalmacht, kein Big Player auf der europäischen Bühne. Noch nicht.

Die Adelshäuser Europas machten damals Politik auf dem Schlachtfeld (durch Kriege) und im Bett (durch geschickte Heirat). Vererbt wurde da nicht viel – außer Krankheiten wegen häufiger Inzucht. Man schmiedete Allianzen und zerstritt sich wieder, manchmal innerhalb weniger Jahre. Auch Frankreich und Preußen pflegten eine solche On-off-Beziehung.

Friedrich II., genannt „der Große“, wird 1740 König in Preußen. Den Franzosen ist er ein Rätsel. Friedrich schreibt und spricht exzellentes Französisch, sogar besser als Deutsch – das reicht bei ihm gerade zum Schimpfen. Voltaire, Frankreichs scharfzüngigster Philosoph, ist drei Jahre lang Gast auf seinem Schloss in Potsdam. Friedrich nennt es „Sanssouci“ und nicht, wie es auf Deutsch hieße, „Sorglos“. Doch sosehr die Franzosen den Oberpreußen für seinen philosophischen Weitblick loben, sosehr sind ihnen seine militärischen Abenteuer in Schlesien und Sachsen suspekt.

Frankreich treiben bald andere Sorgen um als der Gegner im Osten. Nach der Revolution 1789 kommt in Frankreich der Korse Napoleon Bonaparte an die Macht. Mit seiner „Grande Armée“ erobert er Gebiete von Gibraltar bis Danzig, auch das Heilige Römische Reich nimmt er ein. Triumphierend zieht er durchs Brandenburger Tor. Frankreich ist jetzt auf dem Gipfel seiner Macht, Deutschland so zerstückelt wie nie. Von dieser Kränkung wird es sich lange nicht erholen.

Napoleon weiß, wie man Besiegte ködert. Die Kurfürsten von Sachsen, Bayern und Württemberg macht er zu Königen, denn nichts ist für Alleinherrscher so bestechend wie ein neuer Hermelinpelz. Doch die Schmeicheleien helfen Napoleon nur kurz. 1812 überfrisst er sich in seinem Machthunger. Im Russlandfeldzug verliert er den Kampf um Moskau, von seiner Grande Armée überlebt nur ein Bruchteil den Rückzug. Mit 675.000 Mann, davon bis zu 200.000 preußische, sächsische und bayerische Soldaten, war Napoleon in den Krieg gezogen. Zurück kam er mit insgesamt nur etwa 100.000 halb erfrorenen Invaliden.

Für diesen Tyrannen wollten die besetzten deutschen Staaten, allen voran Preußen, nie mehr in den Krieg ziehen (müssen). Sie waren die Franzosen leid, dieses übergriffige Volk, das immer alles besser wusste und immer alles früher zu haben schien: den Nationalstaat, die Revolution, die Herrschaft über Europa.

Auch die Schriftsteller erhoben sich mit der Feder und dem Gewehr gegen die Besatzer. Um die Deutschen, die sich in erster Linie als Preußen, Bayern, Württemberger fühlten, über alle Regionalgrenzen hinweg zu den Waffen zu rufen, erfanden sie ein Zerrbild: hier die edlen Deutschen, dort die verschlagenen Franzosen. Je größer der Hass auf Frankreich, desto patriotischer die Gefühle. Denn nichts eint so sehr wie ein gemeinsamer Feind. In den Befreiungskriegen 1813 bis 1815 trieben die österreichischen, preußischen und russischen Truppen Napoleon zurück über den Rhein.

Einer, der sich mit seinem Franzosenhass ganz besonders hervortat, war der Schriftsteller Ernst Moritz Arndt. Seine Bücher und Gedichte wurden phänomenale Bestseller, hunderttausendfach verlegt. „Ich hasse alle Franzosen ohne Ausnahme im Namen Gottes und meines Volkes“, schrieb Arndt. „Ich lehre meinen Sohn diesen Hass. Ich werde mein ganzes Leben arbeiten, dass die Verachtung und der Hass auf dieses Volk die tiefsten Wurzeln in deutschen Herzen schlage.“ Wäre Erbfeindschaft wirklich erblich: Hier fände man das mutierte Gen.

Und auf französischer Seite? Da las man einen anderen Bestseller, „De l’Allemagne“, und lernte dadurch, dass die Deutschen gut dichten können, aber auch viel Bier trinken. Die Autorin Germaine de Staël hatte Deutschland mehrfach bereist und porträtierte die Nachbarn nun als Volk der „Dichter und Denker“: ein bisschen wunderlich zwar und schwermütig, aber eben auch klug.

Die Deutschlandbegeisterung in Frankreich geriet jedoch bald ins Wanken. Wieder war es ein preußischer Staatslenker, der an die Macht kam und die Franzosen gleichermaßen beeindruckte und verstörte: Otto von Bismarck, Ministerpräsident von Preußen, führte ein Regiment mit „Blut und Eisen“. Seine Feldzüge etwa gegen Hannover, Hessen und Dänemark in den 1860ern ließen Frankreich erschaudern. Wie mächtig konnte dieses Preußen noch werden?

Bismarck ist es auch, der durch eine List den Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 heraufbeschwört. Beide, Frankreich und Deutschland, sind daran nicht unschuldig. Diesmal zwingen die Deutschen die Franzosen in die Knie, erobern das Elsass und Lothringen. Ihren Minderwertigkeitskomplex kurieren die Deutschen mit einer Demütigung des Nachbarn. Die Gründung des Deutschen Kaiserreiches wird im Spiegelsaal zu Versailles verkündet, der Prunkstätte der französischen Könige. Die Deutschen benehmen sich wie ein Wilderer, der erst den Elefanten erlegt, den Stiefel dann auf den Stoßzahn stellt und zum Schluss ein Selfie macht. Für die Franzosen eine unsägliche Schmach.

Im und nach dem Krieg kursiert nun auch wörtlich der Begriff „Erbfeindschaft“. In den Zeitungen, auf Plakaten und in den Geschichtsbüchern Frankreichs ist von der „blutenden Wunde“ Elsass und Lothringen die Rede. Manche fordern gar Rache, französisch „revanche“. Selbst in Kirchen wird gepredigt, die Deutschen und die Franzosen seien unversöhnliche Feinde seit Jahrhunderten.

Gut 100 Jahre später geht diese Saat auf. Mit der Parole „Zivilisation gegen Barbarei“ ziehen 1914 beide Seiten in den Ersten Weltkrieg. Dabei sind die Barbaren immer die anderen. Noch immer verstehen die Franzosen die Deutschen nicht. Die Nachbarn scheinen schizophren zu sein: träumerisch mit dem Kopf, kriegerisch mit der Faust. Als „Rohling mit Erfinderpatenten; Doktor der Mordkunst, der Lüge, Doktor in der Kunst der Verleumdung, des Feuerlegens“ charakterisierte der französische Schriftsteller André Suarès die Deutschen 1915.

Die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg ist noch frisch, als deutsche Divisionen 1940 erneut auf Paris zurollen. Frankreich kapituliert schnell, auch, um Schlimmeres zu verhindern – und kollaboriert. Erst der Résistance unter Charles de Gaulle, vor allem aber den alliierten Truppen gelingt 1944 die Rückeroberung des besetzten Landes.

Es dauert fünf Jahre, bis Ludwigsburg und Montbéliard die erste deutsch-französische Städtepartnerschaft nach dem Krieg aufnehmen. Heute wohnen rund drei Viertel aller Deutschen und Franzosen in Städten und Gemeinden mit einer Partnerschaft. Ab Ende der 1940er-Jahre machen sich zwei Dutzend deutsche und französische Historiker und Geschichtslehrer daran, das Erbe der Erbfeindschaft zu tilgen. Der Hass soll nicht den nachfolgenden Generationen weitergegeben werden. Die Fragen, die sie klären müssen, könnten vertrackter nicht sein. Wer hatte wann einen Anspruch auf Elsass-Lothringen? Waren Napoleon III. und Bismarck Kriegstreiber? Und wer löste den Ersten Weltkrieg aus? Bildlich gesprochen ist dieses Treffen die Keimbahntherapie der Erbfeindschaft.

Besiegelt wird die deutsch-französische Wiederannäherung 1963 mit dem Élysée-Vertrag. In der Kathedrale von Reims geben sich Staatspräsident Charles de Gaulle und Bundeskanzler Konrad Adenauer zuvor die Hand. Achtzehn Jahre nach Kriegsende handelt ausgerechnet de Gaulle, der Held der Résistance, der Rückeroberer von Paris, die Wiederannäherung aus. Allzu schwer fällt ihm das offenbar nicht. „Unser größter Erbfeind ist nicht Deutschland, sondern England“, vertraut er einem Berater an.

Verfolgt man den Ausdruck „Erbfeind“ durch die Jahrhunderte, wurde da in der Tat ziemlich viel vererbt: Mal hielten die Habsburger die Osmanen für den Erbfeind, dann die Niederlande Spanien, dann Spanien England, dann England Frankreich, dann Frankreich Deutschland. Was denn auch mehr über den Begriff „Erbfeind“ aussagt als über diese Länder und deren Beziehungen. Das Dominospiel der Macht ist jedenfalls seit 72 Jahren beendet, in Erbfeindschaftseinheiten gerechnet: seit drei nicht stattgefundenen Kriegen. So gesehen ist es ein Wunder, dass die Europäische Union den Friedensnobelpreis nicht schon viel früher erhalten hat.