Am Eingang des früheren Sitzes des Ministeriums für Staatssicherheit prangt immer noch riesengroß das Emblem jener vor 27 Jahren geschlossenen Behörde, die zu einem Staat gehörte, den es seit 1990 nicht mehr gibt. Die Zeit scheint konserviert, die Luft riecht noch nach DDR – leicht muffig und nach Bohnerwachs. Fremd kommt mir diese Welt vor, in der in kilometerlangen Gängen Akten, Karteikarten, Geruchsproben und Tonmaterial lagern. Während ich von einer Mitarbeiterin der heutigen Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (kurz: BStU) im Stasiarchiv der Außenstelle Leipzig herumgeführt werde, blicke ich immer wieder auf die Akte in meinen Händen. In diesen museal anmutenden Räumen erinnert sie mich daran, dass diese Zeit noch gar nicht so lange her ist. Denn es handelt sich um die Stasiakte meines Opas – Hunderte Seiten von Berichten, Maßnahmenplänen und operativen Personenkontrollen, die die hauptamtlichen und inoffiziellen Mitarbeiter*innen der Stasi verfasst hatten. Unter ihnen auch Nachbarn und Freunde meines Opas.

Die Enttäuschung über das Ausmaß der Überwachung vonseiten eines Staates, den er in seinen Anfängen so unterstützt hatte, wog schwer

Am 29. Dezember 1991, rund ein Jahr nach der Wiedervereinigung, trat das Stasi-Unterlagen-Gesetz (StUG) in Kraft. Es erlaubte jedem Bürger, einen Antrag auf Einsicht in seine Akte zu stellen. Auch meinem Opa. Aber die Einsicht schmerzte. Die Enttäuschung über Nachbarn und Freunde, die ihn bespitzelt hatten, und vor allem über das Ausmaß der Überwachung vonseiten eines Staates, den er in seinen Anfängen so unterstützt hatte, wog schwer. Er zog sich zurück, wurde depressiv.

Jetzt, nach 25 Jahren, frage ich mich: Wie erging es anderen Betroffenen, die ihre Akten einsahen? Wie leben sie mit den Erkenntnissen? Wer hilft ihnen? Würden sie die Akte noch mal einsehen, wenn sie die Zeit zurückdrehen könnten? War es für viele nicht auch befreiend, endlich zu wissen, wo sie dran waren? Und was ist mit denen, die eine Akte haben, sie aber bis heute nicht einsehen wollen?

Unser Artikel ist bebildert mit Aufnahmen, die der Künstler Simon Menner 2011 in den Archiven der Stasi entdeckt hat und in dem Bildband „Top Secret“ veröffentlicht hat. Es sind Fotos, die die Arbeit des Überwachungs- und Unterdrückungsapparates Staatssicherheit dokumentieren. Dies obigen Bilder zum Beispiel sind nachgestellte Szenen von Observationen, die in der Schulung angehender Agenten verwendet wurden.

Im Lesesaal der Außenstelle Leipzig treffe ich Herrn Richter. Er hat den mittlerweile dritten „Wiederholungsantrag“ gestellt, und jedes Mal taucht neues Material auf. Material, das 1993 bei seiner ersten Akteneinsicht noch nicht gefunden oder nicht zugeordnet werden konnte. Herr Richter war damals in der Arbeitsgruppe Menschenrechte in Leipzig aktiv. Sie vernetzten sich mit anderen Oppositionellen, stellten Westkontakte her, dokumentierten Fälle von Menschenrechtsverletzung und organisierten Friedensgebete. „Wir waren uns der Überwachung durchaus bewusst. Gehindert hat uns das in unserer Arbeit nicht, wir waren eben vorsichtig“, erklärt er. Deshalb habe er 1992 auch gleich einen Antrag gestellt, um herauszufinden, wer was über ihn und seine Freunde geschrieben hat.

„Ich finde das seltsam. Wieso redet keiner darüber? Auch mein Opa hat mit keinem der ehemaligen IM gesprochen, stattdessen all seine Enttäuschung in sich hineingefressen“

Ich frage ihn, was er sich von der Einsicht versprach. „Das Interesse war weder damals noch heute von einem ‚Rachegedanken‘ getragen“, sagt Richter. „Gleichwohl erwartete ich ein Stück weit Gewissheit – und die habe ich bekommen.“ Denn durch die Akteneinsicht konnte seine Angst ausgeräumt werden, dass möglicherweise seine engsten Freunde der Stasi Informationen zugespielt hätten. „Das war eine große Erleichterung.“ Von denen, die ihn dann tatsächlich als inoffizielle Mitarbeiter (kurz: IM) bespitzelt hatten, hätte er sich das schon denken können. Mit denen habe er nach der ersten Einsicht allerdings nie gesprochen, und es sei auch nie einer direkt auf ihn zugekommen.

Ich finde das seltsam. Wieso redet keiner darüber? Auch mein Opa hat mit keinem der ehemaligen IM gesprochen, stattdessen all seine Enttäuschung in sich hineingefressen. „Hätte er sich diese Akte doch bloß nie angesehen!“, schimpft meine Oma noch heute. Ich selbst kann meinen Opa nicht mehr fragen, ob er die Akte lieber doch nicht eingesehen hätte, könnte er die Zeit zurückdrehen. Vor ein paar Jahren ist er gestorben.

Herr Richter hingegen hat keinen Zweifel. Er würde seine Akte immer wieder einsehen, um ein möglichst vollständiges Bild von der Vergangenheit für sich selbst zu erhalten. 

Nachbarn, die zum Blumengießen einen Schlüssel hatten, haben ihre Wohnung durchsucht

Es muss schlimm sein zu erfahren, dass Freunde und Nachbarn einen bespitzelt haben. Während meine Großeltern im Urlaub waren, haben ihre Nachbarn, die zum Blumengießen einen Schlüssel hatten, ihre Wohnung durchsucht. Und alles nur, weil mein Opa nie ein Blatt vor den Mund genommen hat und weil er bei einigen Leuten im Dorf Antennen für den Westempfang angebracht hat. Im Stasijargon hieß das: „störendes Mitglied auf Parteiversammlungen“ und „organisierter Bau von Fernsehantennen für den Empfang des Westfernsehprogramms“. Mein Opa war überzeugter Sozialist beziehungsweise Kommunist. Ein Vorzeigearbeiter, wie ihn Marx sich nicht besser hätte wünschen können. Er hatte proletarisches Klassenbewusstsein, war politisch top informiert und besaß einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit. Nur irgendwann merkte mein Opa eben, dass Theorie und Praxis immer weiter auseinanderklafften. Selbst von seinen Erwägungen, aus der SED auszutreten, wusste die Stasi. Doch dann fiel die Mauer. Und mit ihr ein System, an dessen reale Ausformung mein Opa zwar zum Ende hin nicht mehr glaubte, dessen Utopie er aber so gerne mal verwirklicht gesehen hätte. Den gelebten Sozialismus.

Die Staatssicherheit führte oft heimliche Wohnungsdurchsuchungen durch. Viele Bewohner erfuhren erst nach der Wende von diesen staatlich verordneten Einbrüchen. Damit die möglichst spurlos vonstatten gingen, nutzten die Stasi-Mitarbeiter Polaroid-Kameras, um vor der eigentlichen Durchsuchung Sofortbilder anzufertigen. So konnten sie im Anschluss alles wieder in die ursprüngliche Position bringen. Das Filmmaterial für die Kameras wurde in Westdeutschland eingekauft – oder bei der routinemäßigen Öffnung privater Postsendungen aus dem Westen beschlagnahmt.

Minutiös gibt der IM ein Gespräch wieder, in dem mein Opa mit einem Kollegen über die schlechte Wirtschaftslage und das schlechte Fernsehprogramm der DDR schimpft. Diese exakte Dokumentation erscheint mir surreal. Meine Oma ärgert sich stattdessen über die Verzerrung bestimmter Sachverhalte und falsch gedeutete Beobachtungen der inoffiziellen Mitarbeiter. So hätten sich Opa und ihre Schwester entgegen einer Einschätzung eines IM sehr gut verstanden! Trotz der flächendeckenden Überwachung der DDR-Bevölkerung hat die Stasi also nicht alles richtig interpretiert und auch nicht alles mitgekriegt.

Früh setzte die Stasi IMs auf ihn an – auch weil er Teil einer „negativen Gruppe Jungerwachsener“ war

Darüber freut sich Ralf Bartholomäus nach seiner Akteneinsicht. Seit 30 Jahren leitet er die Galerie Weißer Elefant in Berlin-Mitte. Schon damals verkehrte er in Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) und dann später in Berlin in Künstler- und Intellektuellenkreisen. Früh setzte die Stasi deshalb IMs auf ihn an. Vor allem aufgrund seines Briefwechsels mit dem Schriftsteller und DDR-Dissidenten Reiner Kunze, aber auch, weil er Teil einer „negativen Gruppe Jungerwachsener“ war, wie es damals offiziell hieß. Um dazuzugehören, reichten schon seine Freundschaften mit Künstlern, das Vorhaben, mit oppositionellen Künstlern in Kontakt treten zu wollen, und seine damalige Arbeit in einer Galerie und einem Kulturladen. „Die wirklich wichtigen Dinge aber, die hat selbst die Stasi nicht mitgekriegt. Man durfte sich halt nicht erwischen lassen“, sagt er schmunzelnd. 

Wenn in der DDR die Post abging: Gerne überwachte die Stasi auch Briefkästen und fotografierte jede Person, die einen Brief einwarf. Auf einigen Filmen ist dann noch zu sehen, wie Personen in Zivil die Kästen im Anschluss an die Observierung leeren

Bartholomäus stellte erst vor wenigen Jahren einen Antrag auf Akteneinsicht. Er konnte sich nicht erklären, wieso sich bestimmte Menschen in der Zeit des Mauerfalls und danach von ihm distanzierten. Er suchte Antworten. Vor allem eine sehr gute Freundin brach plötzlich den Kontakt ab. Vor ein paar Jahren dann stellte er sie zur Rede. Sie war sich sicher, dass er sie verraten hatte. Das stimmte nicht, aber nun wusste er, woher diese plötzliche Distanzierung rührte, die er auch mit anderen Bekannten schon erlebt hatte. Das war für ihn der Anstoß, seine Akte zu beantragen. Mit der Einsicht klärte sich dann vieles auf. Aber vor allem hatte er nun das Schriftstück in den Händen, das bewies: Er hatte nie für die Stasi gearbeitet, sondern wurde selbst bespitzelt, stand sogar fälschlicherweise unter Spionageverdacht.

Stefan Trobisch-Lütge von der Beratungsstelle Gegenwind für politisch Traumatisierte der SED-Diktatur in Berlin-Moabit erklärt, der späte Antrag von Bartholomäus sei kein Einzelfall: „Es gibt viele Menschen, die erst jetzt bereit sind oder für die es erst jetzt relevant ist, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen.“ Zwar nehmen die Anträge auf persönliche Akteneinsicht jährlich leicht ab, aber die Zahl ist immer noch hoch. Allein 2016 beantragten 48.634 Menschen Akteneinsicht, 27.348 davon waren Erstanträge.

Insgesamt überwiegt das positive Erlebnis des Erkenntnisgewinns gegenüber den menschlichen Enttäuschungen

Ich frage mich, warum es solch eine Anlaufstelle, in der die Antragsteller vor und nach ihrer Akteneinsicht mit drei Psychologen Gespräche führen oder sich in der Gruppe mit anderen Betroffenen austauschen können, nicht auch für meinen Opa gab. Herr Trobisch-Lütge erklärt mir, dass es weiterhin schwer sei, die Menschen auf den kleinen Dörfern zu erreichen. Insgesamt überwiege für die Mehrheit der Menschen, die Einsicht in ihre Akte genommen haben, das positive Erlebnis des Erkenntnisgewinns gegenüber den menschlichen Enttäuschungen. Letztlich müsse aber jeder selbst entscheiden, ob er oder sie die Akten einsehen oder herausfinden will, ob es überhaupt eine Akte gibt.

Da fasst man sich an den Kopf: Diese Bilder kamen als Lehrmaterial in einem Seminar zum Einsatz, in dem angehenden Agenten beigebracht wurde, wie geheime Zeichen zu übermitteln sind

Manche Menschen wollen die Vergangenheit einfach nur ruhen lassen. Zum Beispiel meine Mutter. Auch von ihr gibt es, so die Vermutung, in irgendeiner Stasi-Außenstelle in Mecklenburg-Vorpommern noch eine Akte. Ihre Freundin hatte damals versucht, zu ihrem Freund in den Westen zu fliehen. Klar war meine Mutter da auch involviert. Schließlich ging es um Liebe. Und schon stand die Stasi bei ihr vor der Tür – und ein Vermerk in der Akte meines Opas.

„Ihre Entschiedenheit wirft für mich Fragen auf: Gibt es da möglicherweise Dinge, die ich nicht wissen soll?“

Es ist der 25. Dezember 2016. Meine Mutter, meine Tante, meine Oma und ich sitzen am Weihnachtstisch. Topthema: die Stasi und die Akten. Meine Tante mahnt, dass ich die Zeit damals nicht einfach schwarz-weiß in Opfer und Täter einteilen soll. Viele hätten auch für die Stasi gearbeitet, weil sie selbst unter Druck gesetzt wurden. Auch meine Oma weiß von vielen Bekannten zu berichten, die nur studieren konnten, weil sie mit der Stasi kooperierten. „So war das eben damals, trotzdem: Uns ging es gut“, sagt meine Oma.

„Die DDR ist für mich Vergangenheit, ich lebe jetzt“, sagt meine Mutter. Ihre Entschiedenheit wirft für mich Fragen auf: Gibt es da möglicherweise Dinge, die ich nicht wissen soll? Oder woher kommt diese absolute Weigerung?

Ich kann ihre Akte leider nicht beantragen. Diese Möglichkeit besteht seit 2011 zwar für Angehörige von Vermissten oder bereits Verstorbenen, aber nur, „wenn ein berechtigtes Interesse vorliegt“ und kein gegenteiliger Wille des Betroffenen bekannt ist. Meine Mutter beendet das Gespräch mit den Worten: „Es war keine einfache Zeit. Letztendlich habe ich aber sehr viel Glück gehabt.“ Ihr klares Nein lässt mich schweigen. Stattdessen träume ich wie mein Opa von einer Zukunft, in der der gelebte Sozialismus ohne Überwachung Realität wird.

Stasiakten

Stasi Agent fotografiert sich selbst

Auch eine Observation scheint manchmal langweilig gewesen zu sein. Dieser Agent hier hatte jedenfalls nichts besseres zu tun, als sich währenddessen selbst zu fotografieren

Denn darum geht es eigentlich für mich als Kind der dritten Generation, das dieses Land namens DDR nur aus Familiengeschichten, Büchern, Filmen und Fernsehdokumentationen kennt: Ich bin ebenso tief enttäuscht wie mein Opa, dass der Sozialismus, den sich die DDR auf die Fahnen schrieb, nur mit einer Bespitzelung seiner eigenen Bürger zu haben war. Für mich stehen diese Akten und ihre Einsicht also nicht nur für eine aktive Geschichtsaufarbeitung gerade in Zeiten, da wieder über mehr Befugnisse für Polizei und Sicherheitsdienste diskutiert wird, sondern vor allem für die Frage: Was kann man daraus für ein zukünftig anderes Gesellschaftsmodell lernen?

Klar wünschte ich deshalb, meine Mutter würde ihre Akte doch noch beantragen. Aber ich verstehe auch, dass manche Wunden nicht mehr aufgerissen werden müssen. Den Herren Richter und Bartholomäus hat die Einsicht zu Aufklärung und auch Befreiung verholfen, denn beide hatten konkrete persönliche Fragen. Ganz anders meine Mutter. Die hat keine Fragen mehr. Sie kann sich offenbar auch so denken, was in den Akten steht. Meinem Opa hingegen ging es nicht so sehr um persönliche Aufklärung, sondern vor allem darum, seinen Staat, die DDR, zu verstehen. Zumindest ein wenig hat er das durch die Einsicht wohl auch erreicht. Deshalb würde er, da bin ich mir ziemlich sicher, seine Akte immer wieder einsehen – trotz alledem.

Titelbild: Nach dem Fall der Mauer versuchten Stasi-Mitarbeiter, im großen Stil Unterlagen zu vernichten. Viele Dokumente sind tatsächlich verloren gegangen, andere wurden aus Bruchstücken rekonstruiert. Auch einige Bilder aus den Archiven zeigen Spuren des Vernichtungsprozesses.