Illustration einer Arzthelferin die eine Tablettenblister entgegenhält

Plötzlich Patientin

In unserer Reihe „Kurz war alles gut“ sammeln wir Momente des Alltags, die für das Miteinander in der Gesellschaft stehen. In Folge 4 geht es um die Tücken der Sprechstundensuche als Kassenpatientin

Text: Anonym
Thema: Körper
10. Oktober 2025

Ich scrollte schon eine Weile durch ein Onlineportal für Arzttermine. Bei jeder Praxis, die ich anschaute, stand: Nächster freier Termin erst in vier Monaten. Oder: Praxis nur für Privatversicherte. Kommen Sie doch morgen – aber dann müssen Sie selbst zahlen!

Ich war gerade erst wieder nach Berlin gezogen. Dass es schwer werden würde, dort einen Platz bei einem Gynäkologen oder einer Gynäkologin zu bekommen, war mir schon klar. Aber so schwer? Dabei brauchte ich noch nicht mal ein Gespräch, sondern nur dringend ein Rezept. Und zwar nicht in vier Monaten, sondern in spätestens vier Wochen. Ich zählte im Kopf die Tage durch. Ja, vier Wochen. Dann musste ich einen Pillennachschub holen.

In meiner Verzweiflung lief ich mit meinem alten Rezept zur Apotheke. Ob man damit nicht was machen könnte? Die Apothekerin schüttelte den Kopf. Also rief ich in der nächstbesten gynäkologischen Praxis an. Vielleicht könnte man mir ja ein Rezept ausstellen, ohne mich als Patientin aufzunehmen? Am Telefon antwortete mir eine KI-Stimme, ich solle ihr mein Anliegen erklären. Ich schwieg zurück. Das konnte ich doch keiner KI erklären, viel zu kompliziert! Viel zu sehr auf den guten Willen einer anderen Person angewiesen! 

Auf einmal machte sie mir ein Angebot

Ich schrieb stattdessen eine Mail. Betreff: Termin nur für Rezept? Die Antwort kam eine halbe Stunde später: Leider bist du keine Patientin bei uns. Zurzeit nehmen wir auch leider keine auf. Was nimmst du denn aktuell für eine Pille? Es folgte ein kurzes E-Mail-Hin-und-Her. Plötzlich machte die Person, die mir aus der Arztpraxis schrieb, ein Angebot. Sie habe noch einen Pillenblister im Schrank, den könnte ich abholen kommen.

Als ich in das riesige Arztgebäude ging, sah ich die Arzthelferin schon im Flur. Sie sprach mich mit meinem Namen an, ich nickte, sie schloss die Praxistür auf. Hinter dem Empfang kramte sie in ihrem Schrank und reichte mir den Pillenblister. „Wie viele hast du denn jetzt noch übrig?“, fragte sie. „Jetzt zwei“, antwortete ich. „Mhm“, sagte sie. Und dann: „Ach, weißt du was, bevor du jetzt sechs Jahre auf einen Termin wartest, gib mir mal dein Kärtchen.“ 

Ich guckte sie ungläubig an. Bevor ich über die sechs Jahre schlucken konnte, tippte sie meine Daten vom Krankenversicherungskärtchen in ihren Computer. Wir guckten zusammen im Kalender nach einem Termin. Den grünen Zettel, auf dem sie das Datum notierte, nahm ich entgegen, als wäre er ein Hunderteuroschein. Fünf Wochen später durfte ich für mein Rezept wiederkommen. Als Patientin.

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Illustration: Lea Dohle