Kein Kinderspiel
In Thailand bestreiten selbst Kinder professionelle Muay-Thai-Kämpfe. Für wenige ist es ein Weg aus der Armut – doch für alle ein gesundheitliches Risiko
Mongkhon Punpiboon war zehn Jahre alt, als er in seinem Dorf im Süden Thailands erstmals im Ring stand. Ein Schulfreund hatte ihm erzählt, dass er für einen Muay-Thai-Kampf 300 Baht – umgerechnet rund 8 Euro – bekommen würde. „Ich konnte zum ersten Mal in meinem Leben Geld verdienen“, sagt Punpiboon, den alle nur Kru Pik nennen (Kru bedeutet Lehrer auf Thai, Anm. d. R.). Und jeder Kämpfer hoffe auf den großen Gewinn.
Adrenalin pumpte durch seinen schmächtigen Körper, er sah in die Augen seines Gegners, der schwerer und größer war. Er wusste, was ihn erwartete: Mit seinem Vater hatte er unzählige Kämpfe im Fernsehen gesehen.
Kru Pik hatte Talent. In den folgenden Jahren kämpfte er sich an die Spitze Thailands. Sein Aufstieg ist eine Geschichte, wie sie in Thailand oft erzählt wird, wo Muay Thai als Nationalsport vom Premierminister als kulturelles Aushängeschild Thailands gefördert wird: Ein Kind aus den verarmten Provinzen schafft es von Dorffesten in die Arenen Bangkoks und hilft der Familie aus der Armut. Davon träumen viele. Sie blicken auf zu Kämpfern wie Buakaw oder Rodtang, die zu internationalen Ikonen wurden und den Sport auch im Westen prominent machten. „Muay-Thai-Kämpfer ist in Thailand ein ganz normaler Beruf“, sagt Kru Pik.
Doch das Scheinwerferlicht überstrahlt die Realität: Die meisten Kinder schaffen nie den Durchbruch und riskieren ihre Gesundheit. Schädel-Hirn-Traumata sind verbreitet, die Gehirnentwicklung ist gefährdet, und Gedächtnisverlust kann eine Langzeitfolge sein. Manche sterben sogar: 2018 verlor ein 13-jähriger Junge nach schweren Kopftreffern das Bewusstsein und starb später im Krankenhaus an einer Gehirnblutung. Er hatte bis dahin 174 Kämpfe bestritten.
Im April veröffentlichten thailändische Wissenschaftler eine Studie und brachten eine ins Stocken geratene Debatte über Schutzmaßnahmen für Kinder wieder in Gang. Ihr Fazit: Thaiboxen im Kindesalter unter professionellen Wettkampfbedingungen sei ein Verstoß gegen die UN-Kinderrechtskonvention, wofür Kinder aus armen Familien mit ihrer Gesundheit bezahlten.
Kru Pik bestritt rund 300 Kämpfe, 170 davon als Minderjähriger. Seine Karriere endete im Alter von 24 Jahren abrupt durch eine Schulterverletzung. Er wurde Trainer, zog 2020 nach Düsseldorf zu seiner Ehefrau und gab Muay-Thai-Training in verschiedenen Gyms. Er liebt den Sport noch immer. „Du wirst fit und diszipliniert“, sagt er.
Im Muay Thai, der „Kunst der acht Gliedmaßen“, bei der neben Fäusten auch Ellenbogen, Knie und Beine eingesetzt werden, gibt es zwei Wettkampfformen: Amateur- und Profikämpfe. Kinder in Thailand treten teils schon ab acht Jahren in Profikämpfen an, bei denen sie weder Kopf- noch Schienbeinschutz tragen. Es gibt mehr Runden, der Stil ist härter als bei Amateurkämpfen – und es geht neben Punkten auch darum, den Gegner außer Gefecht zu setzen.
Kru Pik kämpfte in beiden Bereichen. 2005 gewann er in Manila als erster thailändischer Amateurkämpfer die South East Asian Games. Um sich vorzubereiten, besuchte er die Schule kaum noch, erhielt den Abschluss aber als Anerkennung seiner Verdienste als Kämpfer. Mit 17 kämpfte er professionell im berüchtigten Rajadamnern-Stadion in Bangkok.
Vom Schüler zum Lehrer: Kru Pik unterrichtet heute selber Kinder in Muay Thai
Ein weiterer Unterschied: Bei den professionellen Kämpfen – egal ob im Dorfring oder der Großstadtarena – werden Wetten angenommen. Um den Ring drängen sich Schaulustige und signalisieren durch Handzeichen ihren Wetteinsatz.
„Als Kind hatte ich Angst vor meinem Trainer. Er setzte Geld auf mich. Und wenn ich verlor, schlug er mich“, sagt Kru Pik. Armut sei der Hauptgrund, warum Kinder mit dem Kämpfen anfangen, meint er. Doch die Gagen aus Wetteinnahmen hätten ihn auch motiviert, diszipliniert zu trainieren. Dass Kinder auf diese Weise Geld verdienen, ist durch eine gesetzliche Grauzone möglich. Die Einkünfte fallen im Arbeitsrecht nicht unter die Paragrafen zur verbotenen Kinderarbeit in Thailand, weil das Preisgeld offiziell nicht als Lohn gilt.
Virawudh Soontornniyomkij, Neuropathologe an der thailändischen Mahidol-Universität, erforscht die Entwicklung des Gehirns. In den Sportwetten sieht er ein großes Risiko: Kinder würden durch den möglichen Gewinn angestachelt, ihre Gesundheit zu verkaufen. „Das ist Kinderarbeit, auch wenn es nicht so definiert wird“, sagt er. Verlässliche Zahlen fehlen, doch Soontornniyomkij geht in seiner Studie landesweit von rund 300.000 betroffenen Kindern und Jugendlichen aus.
Soontornniyomkij kommt zu dem Ergebnis, dass selbst leichte, aber wiederholte Kopfschläge bei Kindern Schädel-Hirn-Traumata verursachen können. Das liegt unter anderem daran, dass ihr Kopf im Verhältnis zum Körper größer ist als bei Erwachsenen und häufiger getroffen wird, auch deshalb, weil ihre Verteidigung noch nicht ausgereift ist. Ihr Trapezmuskel, der im Nacken den Kopf stützt und vor Erschütterungen schützt, ist nicht vollständig ausgebildet. „Das Gehirn ist erst mit etwa 25 Jahren komplett entwickelt. Jeder Schlag oder jede Erschütterung während der Entwicklung kann schwere Langzeitfolgen haben“, sagt er.
Kru Pik hat die Risiken am eigenen Körper erfahren. „Wir haben früher ohne Mundschutz oder Protektoren gekämpft“, sagt er. Mit 19 wurde er bei einem Kampf ausgeknockt und sei einen Tag lang bewusstlos gewesen. Erst zwei Tage danach erinnerte er sich an den Kampf. „Das hat mir Angst gemacht“, sagt er.
Heute sei der Mundschutz Pflicht und auch das Kämpfen in gleichen Gewichtsklassen. Jedoch wird aus seiner Sicht nicht genug für den Schutz der Kinder getan. Es gebe zwar bereits Gesetze wie den Boxing Sports Act aus dem Jahr 1999, der die Einhaltung eines Mindestalters für Profikämpfe auf 15 Jahre festlege. „Doch es gibt kaum jemanden, der die Einhaltung bei den Kämpfen auf den Dörfern überprüft“, sagt er.
Es ist ein Balanceakt, Muay Thai als Nationalsport zu fördern, ohne dabei die Gesundheit ganzer Generationen aufs Spiel zu setzen. Auch der thailändischen Regierung ist dieses Dilemma bewusst. Im Dezember 2023 veröffentlichte das Ministerium für Soziale Entwicklung und Menschliche Sicherheit ein Statement, in dem es seine Besorgnis über die Verletzungsgefahr für Kinder äußerte. Kein Kind dürfe zu diesem Sport gezwungen werden, hieß es – Verstöße würden mit Geld- oder Haftstrafen geahndet. Doch was heißt Zwang, wenn es ums Überleben in Armut geht?
Trotzdem ist Kru Pik überzeugt: Durch den Sport lernen Kinder Selbstvertrauen, Selbstverteidigung und bleiben gesund. „Aber kein Kind soll für Geld kämpfen müssen“, sagt er. Im Juli eröffnete er in Düsseldorf ein eigenes Gym. Dort bietet er Training auch für Kinder und Jugendliche an.
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