So ist es, ich zu sein: abhängig
Lukas, 22, ist süchtig nach dem Schmerzmittel Oxycodon. Er hat mehrfach versucht, alleine aufzuhören, leider ohne Erfolg. Jetzt kämpft er in einer Entzugsklinik für ein drogenfreies Leben
Bei meiner ersten Pille Oxycodon war ich 17 Jahre alt, wir waren bei einem Kumpel zu Hause. Seine Großeltern hatten abgelaufene Tabletten in einem Aufbewahrungsschrank im Keller. Codein, Tilidin und eben Oxycodon.
Bis ich 20 war, habe ich zwar regelmäßig konsumiert, aber immer nur am Wochenende, und auch mal für ein halbes Jahr gar nicht. Dann bin ich für meine Ausbildung zum Industriemechaniker von Erfurt nach Berlin gezogen. Dort habe ich mich einsam gefühlt, die falschen Leute kennengelernt und angefangen, häufiger und immer mehr zu konsumieren. Zuletzt habe ich eine Dosis genommen, die Menschen nehmen, die kurz vorm Sterben sind. Oxycodon hat mir schöne Momente beschert, aber das war es nicht wert. Ich habe damit viel kaputt gemacht in meinem Leben.
Ich habe gleich nach dem Aufstehen die Tablette zerrieben und durch die Nase gezogen. Erst danach war ich überhaupt in der Lage, zur Arbeit zu gehen. Und dort ging es weiter. Ich habe mir zwischendurch Bahnen auf dem Klo gelegt. Keiner sollte etwas merken. Aber irgendwann wussten alle Bescheid. Ich sah blass aus, meine Pupillen waren winzig.
„Ohne die Tabletten habe ich mein Leben gar nicht mehr auf die Reihe gekriegt“
Ich habe im Zwei-Stunden-Takt konsumiert, und abends brauchte ich Oxycodon zum Einschlafen. Es ging längst nicht mehr um den Kick, ohne die Tabletten habe ich mein Leben gar nicht mehr auf die Reihe gekriegt.
Es war mir immer wichtig, zur Arbeit und zum Sport zu gehen. Das habe ich auch lange durchgezogen, aber am Ende einfach nicht mehr geschafft. Und dadurch habe ich gemerkt: Es geht so nicht weiter. Ich brauche Hilfe. Also habe ich in einer Entzugsklinik in Thüringen angerufen und gefragt, ob sie einen Platz frei haben. Zum Glück war es Sommer, im Sommer sind mehr Plätze frei, weil die meisten sich im Winter einweisen lassen. Als ich dort angekommen bin, habe ich 35 Stunden meinen Rausch ausgeschlafen. Das war wie in einem künstlichen Koma.
Der Aufenthalt in meiner Entzugs- beziehungsweise Entgiftungsklinik dauert drei Wochen. Seit zwei Wochen bin ich nun schon hier. Mein Tag beginnt um 6.30 Uhr. Ich gebe mein Handy ab, gehe zum Frühstück und zur Gruppentherapie. Da erzählen die Leute von Rückfällen, vom Suchtdruck. Ich erkenne mich wieder und merke, dass ich nicht alleine bin. Danach gibt es noch Einzelgespräche. Die bringen mir total viel, denn es geht darin auch um Diagnostik, und ich verstehe langsam, warum ich ticke, wie ich ticke. Bei mir gibt es zum Beispiel den Verdacht auf eine Borderline-Persönlichkeitsstörung.
Um 15 Uhr ist die Therapie vorbei, danach haben wir Freizeit. Manchmal kommen mich Freunde besuchen. Meistens mache ich Sport. In den ersten Tagen des Entzugs war daran noch nicht zu denken, aber ich merke, wie mein Körper langsam wieder hochfährt.
In der Entzugsklinik bin ich mit 22 Jahren der Jüngste. Ich glaube, die meisten brauchen länger, um sich einzugestehen, dass sie süchtig sind. Ich habe das etwa vor anderthalb Jahren gemerkt. Meine Hände haben gezittert, ich hatte Schweißausbrüche, und meine Gedanken haben sich nur noch um den Stoff gedreht. Da war mir klar: Das ist gerade körperlicher Entzug. Dann habe ich versucht aufzuhören. Aber zu Hause einen Entzug zu machen, ist extrem hart. Meistens habe ich nur vier Tage geschafft. In diesen vier Tagen kannst du nichts essen. Und so fühlt sich dein Körper halt auch an. Wenn du trotzdem isst, musst du kotzen. So lange, bis gar nichts mehr im Magen ist. Ich habe gekotzt, bis Blut kam.
Einmal war ich eine Woche bei meiner Oma. Ich sagte ihr, dass ich einen Magen-Darm-Infekt auskurieren wolle. Meine Oma hat dann leere Tablettenblister in meiner Jackentasche gefunden, und ich habe zugegeben, dass ich eigentlich dort war, um Entzug zu machen. Acht Tage habe ich durchgehalten. Aber am Ende bin ich rückfällig geworden.
Ich erinnere mich noch an meine erste Tablette Oxycodon: Ein sanftes Kribbeln hat sich von meinen Gliedmaßen bis tief in den Körper ausgebreitet. Meine Hände wurden plötzlich warm. Es war, als würde mich jemand umarmen.
„Es reicht eine Tür, auf der ‚Ziehen‘ steht, und schon denke ich ans Konsumieren“
Viele Leute verstehen nicht, dass Sucht eine Krankheit ist. Sie fragen dann: „Warum konsumierst du denn schon wieder?“ Als ob man sich bewusst dafür entscheidet. Selbst wenn die körperlichen Symptome nachlassen, bleibt die psychische Abhängigkeit. Ständig gibt es Trigger im Alltag. Es reicht eine Tür, auf der „Ziehen“ steht, und schon denke ich ans Konsumieren.
Hier in der Entzugsklinik ist mein Suchtdruck längst nicht so hoch wie zu Hause. Dort sind so viele Erinnerungen und Emotionen an meinen Oxycodon-Konsum geknüpft, dass es viel schwerer ist, aufzuhören. Deswegen wird einem oft geraten, diese Orte zu verlassen. Ich spiele auch schon länger mit dem Gedanken, aus Berlin wegzuziehen. Aber ich will hier unbedingt meine Ausbildung zu Ende machen. Das ist mein größtes Ziel.
Viele gehen nach der Entzugsklinik in die Langzeittherapie. Das habe ich auch vor. Langzeittherapie bedeutet im Fall von Drogenmissbrauch mehrere Monate stationäre Behandlung. Ich weiß noch nicht, was mich dort erwartet. Aber ich erhoffe mir, dass ich danach vielleicht Antworten auf Fragen finde, die mich zurzeit quälen. Zum Beispiel, ob ich wirklich bereit bin, aus Berlin wegzuziehen und mich von meinen Freunden zu distanzieren, die Oxycodon konsumieren. Es sind ja schließlich meine Freunde.
Ich finde es gut, dass es hier in Deutschland Kliniken und Therapien gibt – und dass man sich dafür entscheiden kann, Hilfe zu suchen. Das ist ein hohes Gut. Ich würde allen Betroffenen raten: Habt keinen falschen Stolz. Ihr müsst nicht alles allein schaffen. Millionen Menschen in Deutschland sind abhängig. Es ist kein Zeichen von Schwäche, Hilfe anzunehmen, sondern ein Zeichen von Stärke.
Wenn du selbst ein Suchtproblem hast oder Angehörige betroffen sind: Hol dir Hilfe. Zum Beispiel anonym, kostenlos (und egal zu welcher Uhrzeit) bei der Telefonseelsorge: 0800/1110111 oder 0800/1110222 oder online.
Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.
Titelbild: Sebastian Mast / Connected Archives