Der Super-Recognizer
Was klingt wie ein Filmtitel, ist eine echte Jobbezeichnung: Ronny Neumann ermittelt verdeckt für die Bundespolizei – und erkennt Gesichter wieder, die andere längst vergessen haben
Ronny Neumann hat einen Bekanntenkreis wie ein Schwerkrimineller. Diebinnen und Räuber sind darunter, Drogendealer und gewaltbereite Fußballfans. Allerhand dubiose Gestalten jedenfalls, längst dürften es Tausende sein. Aber viele von ihnen hat er noch nie getroffen, von einigen weiß er nicht mal die Namen. Sicher weiß Neumann aber, dass die Polizei nach ihnen sucht. Und dass er sie sofort wiedererkennen würde, sollten sie ihm über den Weg laufen. Und genau darum geht es hier.
Neumann ist Mitte 30, mittelgroß, mittelbreit und trägt einen Decknamen. Konkreter darf man nicht werden, denn er ermittelt verdeckt bei der Bundespolizei mit einer speziellen Fähigkeit: Er ist Super-Recognizer. Auf Deutsch: Super-Erkenner. Auch wenn ihm diese Bezeichnung unangenehm ist. „Ich trage ja kein Cape“, sagt er.
Die Fähigkeit ist angeboren und nicht erlernbar
Der Begriff stammt aus der Neurowissenschaft. 2009 kam eine erste Studie von Forschern der Harvard-Universität und des University College London zu dem Schluss, dass sich manche Menschen Gesichter besonders gut merken und diese wiedererkennen können. Die Fähigkeit ist immer noch ein Rätsel. Aber gut 15 Jahre Forschungsarbeit später weiß man immerhin: Ein Super-Recognizer scheint Gesichter anders zu erfassen. Während Menschen ohne diese Fähigkeit vor allem die Augenpartie fixieren, nimmt er Gesichter differenzierter wahr. Ihm reicht ein kurzer Blick, um sich ein Gesicht jahrelang zu merken. Schätzungsweise ein bis zwei Prozent der Menschheit verfügen über diese Begabung. Sie ist angeboren und nicht erlernbar.
Längst haben Polizeieinheiten weltweit den Wert von Super-Recognizern erkannt. Großbritannien war Vorreiter, 2018 zog zunächst das Polizeipräsidium München nach. Seitdem haben mehrere Polizeien in Deutschland nach Super-Recognizern in ihren Reihen gesucht, sie setzen sie bei Großveranstaltungen wie dem Oktoberfest oder der Fußball-EM ein, aber auch im polizeilichen Alltag. Ihre Aussagen allein stellen vor Gericht zwar keinen ausreichenden Beweis dar, aber sie liefern wichtige Ermittlungsansätze.
Ronny Neumanns Revier ist der Bremer Hauptbahnhof, genau genommen die Einkaufspassage unterhalb der Gleise. Dort gibt es alles, was das kurz entschlossene Herz begehren könnte: Döner und gepflegte Nägel, Toiletten und Bäckereien, Rosen für 7,99 Euro und die besten Rezepte für den Airfryer. Das meiste davon an sieben Tagen die Woche. Täglich kommen hier rund 150.000 Besucher durch. „Hier trifft sich alles“, sagt Neumann und meint damit vor allem die Kriminellen. Bremer Straftäter sowieso, aber auch von außerhalb. Aus polizeilicher Sicht ist der Bahnhof ein Brennpunkt.
Ein Freitagnachmittag im Mai. Die Dienststelle der Bremer Bundespolizei liegt im fünften Stock eines grauen Gebäudes auf der Nordseite des Bahnhofs. Auf dessen Vorplatz: noch wenig los, aufgeräumte Geschäftigkeit. Aber jede Minute sei interessant, sagt Neumann, auch die ruhigen. Seine Konzentration sei stets auf dem höchsten Level.
Kaum ist er auf den Vorplatz getreten, hält er kurz inne, als hätte ihn ein Stromschlag getroffen. Er kneift die Augen zusammen, dreht den Kopf nach links, dann entspannt er sich. „Gerade dachte ich, wir hätten gleich die erste Festnahme“, sagt er. War dann aber doch jemand anderes.
Bewegungsmuster sind wichtiger als Muttermale
Neumann hat gelernt, dass er sich auf seine Begabung verlassen kann. Bemerkt hatte er sie schon früh. „Ich bin in meiner Kindheit oft umgezogen“, erzählt er, entsprechend oft habe er die Schule gewechselt. Immer wieder habe er dann später alte Klassenkameraden wiedergesehen – und angesprochen. „Ich war immer der Einzige, der sich an den anderen erinnern konnte“, sagt er.
2017 begann er die Ausbildung bei der Bundespolizei, war später am Flughafen im Einsatz. 2022, da war Neumann schon an die Dienststelle in Bremen gewechselt, suchte die Bundespolizei nach Super-Recognizern. Fast 8.000 Beamte meldeten sich für den mehrstufigen Test. Gerade mal 113 von ihnen haben bestanden. Während andere nach 15 Minuten aufgaben, seien Neumann einige der Aufgaben so leichtgefallen, dass er währenddessen telefonieren und frühstücken konnte.
Wenn Neumann seine Begabung beschreiben muss, sagt er: „Jeder von uns würde seine Mutter im Dunkeln von hinten wiedererkennen.“ So sei das auch bei ihm. Nur dass er eben auch alle anderen Mütter, Väter, Söhne und Töchter wiedererkennen würde, die er schon einmal gesehen hat. Selbst wenn die Person älter, dicker, dünner geworden ist oder sich durch Drogenkonsum stark verändert hat. Auffällige Details, eine krumme Nase oder Muttermale, präge er sich nicht ein. Dafür Bewegungsmuster und Kleidung, die man nicht so oft wechselt. Jacken oder Schuhe zum Beispiel. Im Kopf verbinde er eine Person oft mit Freunden oder Prominenten, an die sie ihn erinnert. „Das ist meine einzige Eselsbrücke“, sagt er.
Im Bremer Bahnhof wuselt es mittlerweile, Feierabendverkehr. Neumann mischt sich unter die Passanten, geht mal schneller, mal langsamer, schaut sich um. Am Ende des Tunnels tritt er auf den Vorplatz, raucht eine Zigarette, und geht dann denselben Weg wieder zurück. Acht bis zehn Stunden ist er pro Schicht unterwegs.
Über polizeiliche Kanäle wird er laufend mit Bildern gefüttert. Von Schwerkriminellen, nach denen teils jahrelang gesucht wird. Aber auch von kleinen Gangstern, Taschendiebe etwa, die von einer der über 100 Überwachungskameras im Bahnhof aufgenommen wurden. Und dann gibt es noch die Vermissten, ausgebüxte Jugendliche oder ältere Menschen, die nicht ins Heim zurückgekehrt sind. Neumann arbeitet allein. Erkennt er jemanden, alarmiert er seine Kollegen. Die führen dann die Kontrolle durch.
150 Fälle hat er aufgeklärt – allein in diesem Jahr
Neumann mischt im Dienst seine Super-Recognizer-Fähigkeiten mit normalem Fahnderwissen, scannt neben Gesichtern auch das Verhalten der Leute. Ein Junge fällt ihm auf, roter Pullover, schwarzer Rucksack, er wirkt gehetzt. Neumann folgt ihm einmal durch den Bahnhof, bricht dann jedoch ab, weil der nichts Strafbares macht. Dann noch mal ein Stromschlag, Neumann eilt in Richtung Backwerk, kommt dann wieder. Zwei Jungs sind ihm aufgefallen. „Ich glaube, dass die dort was geklaut haben“, sagt er.
Manchmal funktioniert sein Gedächtnis auch rückwärts. Erst letztens habe er ein Foto von einem Verdächtigen bekommen und sich erinnert, dass ihm dieser 14 Tage vorher im Bahnhof aufgefallen war, am Erdbeerstand. In den Videoaufzeichnungen aus dem Bahnhof konnte er den Moment wiederfinden und so seinen Kollegen Informationen und Bilder für die weitere Fahndung zur Verfügung stellen.
Über 150 Fälle habe er dieses Jahr schon aufgeklärt, schätzt er. Aber an diesem Nachmittag wird es ruhig bleiben. Und danach? Wie macht man eigentlich Feierabend mit einer Fähigkeit, die man nicht ausschalten kann? Kopfhörer aufsetzen und zu Boden schauen, so viel es geht, sagt Neumann. „Runterfahren“ nennt er das.
Du willst wissen, ob auch du ein Super-Recognizer bzw. eine Super-Recognizerin sein könntest? Die University of Greenwich bietet einen kurzen Einstiegsstest an. Hier kann man ihn machen: www.superrecognisers.com
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