Der Ort, der die junge Generation in die Flucht schlägt, kann auch anziehend sein. Man muss nur Louise Moorhead treffen, die in die Fremde aufgebrochen ist: zum Studieren nach Liverpool, zu langen Reisen nach Myanmar und Kambodscha, Thailand und Japan. Mittlerweile ist die Diplom-Therapeutin, Jeans, Zopf, helle Stimme, nach Derry zurückgekehrt. Als eine Frau, die heilt.
Auf einem Reiterhof, gebettet in die Hügellandschaft am Rand der nordirischen Stadt, die offiziell Londonderry heißt, hält die 35-jährige Moorhead Teenagern den Steigbügel. Im Sattel sollen sie seelischen Halt finden. Die Behandlungsmethode kommt seit den 90er-Jahren in der Psychotherapie zum Einsatz: Die Vertrauensbeziehung zu den Tieren soll dem Selbstbewusstsein einen Schub geben. Moorhead, die jünger wirkt als 35, macht sich nützlich in der Stadt, in der sie mit ihrer alleinerziehenden Mutter aufgewachsen ist.
85.000 Einwohner hat Derry. Trotzdem ist die Stadt oft in den Nachrichten. Früher im Nordirlandkonflikt, heute in der Debatte um den Brexit. 78,3 Prozent der Wählerinnen und Wähler im Kreis Foyle, der aus Derry und seinem Umland besteht, haben für den Verbleib in der EU gestimmt. Die meisten hier fürchten den Ausstieg.
Sie leben in einem Ort, der den Niedergang der Provinz in einer zerfallenden EU zu spiegeln scheint. 95 Prozent der jungen Menschen sehen in Derry keine Zukunft. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, im öffentlichen Sektor wird gespart: Nirgendwo sonst im Vereinigten Königreich floss 2011/2012 so wenig öffentliches Geld in den Gesundheitssektor wie in Nordirland. Auch die Selbstmordrate ist in Nordirland erheblich höher als in Wales oder Schottland – und fast doppelt so hoch wie in England. In Derry ist die Lage so besorgniserregend, dass die Ehrenamtler von „Foyle Search and Rescue“ dreimal die Woche den Foyle inspiziert, Derrys sogartigen Fluss.
Ein Trauma ist in Nordirland wahrscheinlicher als in Israel oder im Libanon
Schwer wiegt das Erbe des Nordirlandkonflikts, der Ende der 1960er-Jahre zwischen irisch-katholischen Unabhängigkeitskämpfern und probritischen Protestanten entbrannte. Derry war – wie viele andere nordirische Städte – fast drei Jahrzehnte lang Schauplatz blutiger Häuserkämpfe. Allein am 30. Januar 1972, dem „Bloody Sunday“, hatten britische Soldaten während eines katholischen Protestmarschs 13 Demonstranten erschossen.
Die Erlebnisse prägen Zeitgenossen, aber auch nachfolgende Generationen bis heute. Laut einer Studie ist in Nordirland die Quote für posttraumatische Belastungsstörungen höher als in Israel oder im Libanon. Louise Moorhead ist eine von denen, die helfen wollen, den Menschen diesen Ballast abzunehmen.
Mittlerweile seien die Menschen für seelisches Leid sensibilisiert, sagt sie. „Seit den späten Neunzigern, als sich das Friedensabkommen abzeichnete, ist das Bewusstsein für psychische Krankheiten gestiegen. Und damit auch die Fähigkeit, Traumata zu verarbeiten und gegenseitiges Verständnis zu entwickeln.“
Das Therapiezentrum, das sie mit einer Kollegin betreibt, heißt „Equine Enrichment“. Die morastigen Koppeln, auf denen jährlich 100 Jugendliche angeleitet werden, gehören zum Gehöft eines Landwirts, dessen Familie das Anwesen seit vier Jahrhunderten besitzt. An diesem Tag werden dort erstmals vier Zehntklässler aus Creggan, einem katholischen Problemviertel, von Pferdenüstern beschnuppert: Callum, Trinity, Cliona und Owen. Die gemeinsame Geschichte mache die Menschen in der Stadt empathischer als woanders, findet Louise Moorhead.
Ein anderes Bild vom jungen Derry zeichnet Paddy Gallagher, 27. Er will den Bruch mit der britischen Krone und die Vereinigung mit Irland im sozialistischen Gewand. Gallagher, der Politik und Geschichte studiert hat, mit Hornbrille, Seitenscheitel und kerzengerader Statur, ist Sprecher der Saoradh-Partei, einer 2016 gegründeten Gruppierung. Sie ist benannt nach dem gälischen Wort für „Befreiung“, Experten bezeichnen sie als parlamentarischen Arm der New IRA, dem jüngsten Zweig der paramilitärischen und als Terrororganisation eingestuften IRA. Die Partei selbst bestreitet das.
Gallagher ist in einem republikanischen Viertel aufgewachsen. Als 1998 das Friedensabkommen unterzeichnet wurde, lernte er gerade lesen und schreiben. Sein Arbeitsplatz ist ein Hinterzimmer in der Parteizentrale, einem Backsteinbau in Derrys Altstadt. Dass Nordirland in der britischen Demokratie repräsentiert ist, zählt für Gallagher nicht. Er sieht sich noch immer unter einem „Besatzungsregime“: Es gebe Hausdurchsuchungen, über der Stadt würden wieder Helikopter der britischen Armee kreisen.
Eine nassforsche Serie bringt Derry auf Netflix
Das ist eine Folge des jüngsten Terrors, gesät von der New IRA, einer Widerstandsgruppe, bestehend aus etwa 200 jungen und alten Dissidenten sowie Kriminellen. Bekannt wurde sie an einem Schreckenstag des vergangenen Jahres: Am 18. April schoss ein Mann während gewalttätigen Auseinandersetzungen in einen Polizistenpulk und traf dabei versehentlich die 29-jährige Journalistin Lyra McKee; die New IRA bekannte sich später zu der Tat und entschuldigte sich.
Paddy Gallagher distanziert sich vom Treiben der Terrorgruppe. „Wir verurteilen Gewalt“, sagt der Separatist. Zugleich bietet der Sitz seiner Partei ein kriegslüsternes Bild: Im Empfangsraum handelt eine Gefangenenhilfe, die auch IRA-Veteranen unter die Arme greift, mit Souvenirs. Im Angebot sind Sturmmützen und T-Shirts mit der Aufschrift „Free Derry“.
Louise Moorhead bezweifelt, dass irgendjemand, ob einzelne Person oder Gruppen, ernsthaft in die Dunkelheit der Vergangenheit zurückwill. Denn das Bild der Stadt hellt sich mancherorts auf. Die TV-Sitcom „Derry Girls“ macht Derry zur Kulisse für bonbonfarbene Comedy. Sie handelt vom Leben einer Mädchenclique, die im Derry der 90er-Jahre pubertiert – im katholischen Teil der Stadt, zwischen Flirts, Wodka und Take-That-Anhimmelei. Der Nordirlandkonflikt spielt nur eine Nebenrolle. Die Serie war im britischen Fernsehen so quotenstark, dass auch Netflix sie mittlerweile anbietet.
Sympathie weckt vor allem die hyperaktive Michelle: eine Göre, die flucht, baggert und sich ständig überschätzt. Gespielt wird sie von der 31-jährigen Jamie-Lee O’Donnell, die in Derry aufgewachsen und nach Wanderjahren in England wieder zurückgekehrt ist. „Ich bin stolz auf meine Wurzeln“, sagt die Schauspielerin in Interviews.
Der Hype um die Serie hat sie zu einer Botschafterin des nordirischen State of Mind gemacht. „Egal wie die Lage ist: Die Leute in Derry finden in allem einen Hoffnungsschimmer“, sagt O’Donnell. „Indem sie einfach über die Situation lachen.“