Thema – Integration

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Keine Deutschen unter den Opfern

Terroranschläge am anderen Ende der Welt lassen viele Menschen kalt. Nicht unsere beiden Autorinnen – sie wünschen sich mehr Mitgefühl für ihre Communities. Eine Anklage

Nadire Y. Biskin, 32, lebt in Berlin:

Am 15. März tötet ein Attentäter 51 Muslim*innen beim Freitagsgebet in zwei Moscheen in Neuseeland. Ich postete daraufhin in den sozialen Netzwerken:

:„Es ist mir klar, dass für mich gestern die Welt stehen blieb und für andere nicht. Ich habe trotzdem funktioniert und war arbeiten. Auf dem Heimweg ging es mir schlechter; zu Hause angekommen, wollte ich nicht mehr raus. Habt ihr gestern eure muslimischen Freunde, sofern ihr welche habt, mal konkret gefragt, was ihr für sie tun könnt? Mich hat eine einzige Person gefragt.“

Viele Bekannte und Unbekannte schrieben mir, dass sie meine Kritik nachvollziehen können und dass sie als Muslim*innen auch nicht auf den Anschlag angesprochen wurden. Der Anschlag in Christchurch schien wenig mit den Menschen in Deutschland zu tun gehabt zu haben. Dabei leben hier Schätzungen zufolge über vier Millionen Muslim*innen, und einige davon gehen zum Freitagsgebet in die Moschee.

Wie mögen sie sich gefühlt haben? Oft ist es das Ziel von Terrorismus, auch andere in Angst zu versetzen. Ein Anschlag auf eine Moschee am anderen Ende der Welt ist, denke ich, für die Mehrheit der Muslim*innen in Deutschland erschütternd, aber nicht überraschend. Er verdeutlicht nur noch einmal mehr, dass antimuslimischer Rassismus endlich ernst genommen werden muss

Arpana Aischa Berndt, 25, lebt in Hildesheim:

Am Ostersonntag, den 21. April, werden bei Anschlägen auf Hotels und Kirchen in Sri Lanka, der Heimat meiner Mutter, mehr als 250 Menschen getötet. Ich schrieb daraufhin:

„Neben den Anschlägen ist heute noch etwas passiert, auf das ich nicht vorbereitet war: Es haben mich nur sehr wenige Menschen gefragt, ob es meiner Familie gut geht, wie es mir geht.“

Ich stellte mir am Tag des Anschlags nur eine Frage: Haben alle meine Verwandten, alle, die wir kennen, unverletzt überlebt? Meine Mutter erzählte, dass sie viele Anrufe von Freund*innen erhalten habe, die wissen wollten, wie es ihrer Familie geht. Bei mir meldeten sich nur wenige Menschen. Ob es daran liegt, dass ich zur zweiten Generation gehöre, also nicht selber nach Deutschland migriert bin? Vielleicht haben meine Mitmenschen Angst davor, eine Verbindung zwischen mir und Sri Lanka nahezulegen.

Als wir – Nadire und Arpana – eine Weile nach diesen Ereignissen zum ersten Mal wieder miteinander telefonierten, entschuldigten wir uns beieinander. Keine hatte sich nach den Attentaten bei der jeweils anderen gemeldet. Die fehlende Reaktionen auf die Terroranschläge, das Schweigen, hat uns beide verletzt.

Wir fragen uns: Warum beklagen wir die fehlende Empathie anderer und sind gleichzeitig oft selbst nicht in der Lage, notwendige Solidarität zu üben? Im Gespräch darüber wird uns klar, dass es nicht an unserer eigenen Abgestumpftheit oder Gefühlslosigkeit oder etwa der Qualität unserer Freundschaft liegt. Vielmehr hängt es damit zusammen, wie wir die Ereignisse vor dem Hintergrund unserer eigenen Situation wahrnehmen; wie die Ereignisse in Deutschland eingeordnet werden; aber auch, wie wir als Teil in Deutschland lebender Minderheiten behandelt werden.

 

Wir merken schnell, dass wir Ähnliches erlebten. Die Anschläge hatten sich in unseren deutschen Alltag gebohrt. Für die meisten unserer Freund*innen und Kolleg*innen ging dieser Alltag hingegen ohne zu ruckeln weiter. Sie erlebten gewöhnliche Tage, sahen abends in der „Tagesschau“ Berichte über einen weiteren Terroranschlag, ganz normale schlechte Nachrichten. 

 „In den vorurteilsbehafteten Vorstellungen über andere Länder erscheint es beinahe normal, dass dort Gewalt herrscht.“

Im Jahr 2017 gab es weltweit 8.584 Terroranschläge, also jede Stunde etwa einen. Nicht von jeder dieser Taten erfahren wir. Das schützt uns vor emotionaler Überforderung. Wenn dann aber so ein Anschlag die eigene Community oder das Herkunftsland der eigenen Mutter trifft, dann steht die Welt still: Alle anderen Ereignisse an diesem einen Tag werden zweitrangig. 

Es gehört zur menschlichen Natur, dann stärker zu trauern, wenn wir uns mit Leidenden identifizieren. Nähe generiert sich nicht nur über Geografie, sondern auch über emotionale Verbundenheit durch den Glauben, die Identität und Familie. So entsteht eine Betroffenheit, die mit der Frage, wie sicher die eigene Familie, die eigenen Freund*innen sind, einhergeht. 

Die Mehrheitsgesellschaft schweigt

Am Ende unseres Telefonats sind wir uns sicher: Wenn weit von Europa entfernt große Terroranschläge geschehen, spüren wir in besonderer Weise, dass wir einer Minderheit in Deutschland angehören. Denn die Anschläge, die unsere Community betreffen, finden auf gesellschaftlicher und politischer Ebene wenig Beachtung: keine Trauerminuten; keine Flaggen auf Halbmast; kaum Äußerungen von Politikern; einseitige mediale Berichterstattung. In den vorurteilsbehafteten Vorstellungen über andere Länder erscheint es beinahe normal, dass dort Gewalt herrscht. 

Zusammen mit den Vertreter*innen des Staates schweigt die Mehrheitsgesellschaft. Vielleicht sind sich viele Menschen unsicher, welche Verbindungen es zu den Personen in der eigenen Umgebung gibt: Ist sie Muslima? Glaubt sie überhaupt? Hat sie Familie in Sri Lanka, oder war es doch Indien?

Und dann sind da noch wir, schwankend zwischen Selbstschutz und Solidarität, aber mit den gleichen Fragen. Wir machen Fehler, fragen nicht nach. Wir wissen bereits, dass wir erneut in ähnliche Situationen kommen werden. Und doch hoffen wir, beim nächsten Mal angemessener, empathischer, solidarischer reagieren zu können.

Fotos: ADAM DEAN/NYT/Redux/laif 

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.