Thema – Erinnern

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„Diese Vergangenheit betrifft uns alle, ob wir wollen oder nicht“

Wie sollten wir an die nationalsozialistischen Verbrechen erinnern, mehr als sieben Jahrzehnte danach? Wir fragen die Historikerin Cornelia Siebeck

Besucher einer Tour in Auschwitz

fluter.de: Einmal ganz grundsätzlich, Frau Siebeck: Warum erinnern wir?

Cornelia Siebeck: Wenn Gesellschaften erinnern, verständigen sie sich über ihre Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft: Wo kommen wir her, wo stehen wir, wo wollen wir hin? Welche Seiten der Vergangenheit man dabei betont, darum wurde in der Bundesrepublik immer gestritten. Im Mittelpunkt steht die Frage, welchen Stellenwert die Zeit des Nationalsozialismus einnehmen soll.

Die Frage ist bis heute kontrovers.

Weil es letztlich zwei gegensätzliche Deutungen gibt: Die eine begreift die NS-Verbrechen als negativen Kristallisationspunkt der deutschen Geschichte, als radikalen Bruch, aus dem sich ein kritisches Verhältnis zur eigenen Geschichte ableitet. Nicht um sich selbst zu geißeln, sondern um daraus zu lernen und zu verhindern, dass so etwas wieder passiert. Das war zunächst die Perspektive einer kleinen Minderheit, die aber mit der Demokratie wuchs.

Die andere Deutung …

… betont eine lange und insgesamt positive Nationalgeschichte, in der die Zeit des Nationalsozialismus einen „Betriebsunfall“ darstellt, mit dem man sich nicht lange aufhalten muss. Das ist auch, was AfD-Politiker meinen, wenn sie zum Beispiel von einem „Vogelschiss“ in der deutschen Geschichte sprechen. Ein derart abfälliger Ton ist ungewöhnlich, inhaltlich sehe ich da aber keine neue Qualität.

Solche Positionen hat es immer schon gegeben?

Noch in den 80er-Jahren war es üblich, den zwölf Jahren NS-Vergangenheit 1.200 Jahre „gute“ deutsche Geschichte gegenüberzustellen, auf die man stolz sein kann. Das war schlicht eine konservative Position. Erst in den 90er-Jahren wurde die Erinnerung an die NS-Verbrechen zur parteiübergreifenden Staatsräson. Die Sehnsucht nach einer „heilen“ deutschen Geschichte ist aber nie verschwunden, und die AfD spricht sie heute wieder aus.

Momentan sieht es danach aus, dass wir nicht aus dieser Geschichte lernen, sondern eher verlernen: Synagogen und Flüchtlingsunterkünfte werden angegriffen, Menschen von Rechtsextremen mit dem Tode bedroht.

Auch das ist nicht neu, wobei sich die Situation zugespitzt hat, seit mit der AfD ein völkisch-nationalistisches Milieu in den Parlamenten sitzt. In dieser Stimmung fühlen sich Neonazis und sogenannte Wutbürger ermutigt, ihre Überzeugungen offen zu äußern – auch mit Gewalt. Dass dann Teile der CDU über eine Zusammenarbeit mit der AfD nachdenken, zeugt tatsächlich nicht von einem Lernen aus der Geschichte. Auf der anderen Seite gibt es hierzulande auch so etwas wie einen demokratischen Antifaschismus und eine hohe Sensibilität, insbesondere für Antisemitismus. Und ich denke, dieser Teil der politischen Kultur ist schon wesentlich auch von der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit geprägt. Es bleibt zu hoffen, dass sich daraus eine stabile Gegenwehr entwickelt.

„Wer an Nationalstolz interessiert ist, dem bleibt unsere Erinnerungskultur ein Dorn im Auge“

Deutschland gilt als Vorbild in der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit. Immer wieder ist aber auch die Rede von einem „Schuldkult“ oder Auschwitz als „Moralkeule“. Wird das Erinnern den Deutschen lästig?

Diese Erinnerungskultur ist nichts, worauf man stolz sein kann – gerade angesichts der Verbrechen, um die es geht. Trotzdem sind etwa staatlich geförderte Gedenkstätten eine Errungenschaft. Dabei darf man aber nicht vergessen, dass sie hart erkämpft wurden, zunächst von ehemaligen Verfolgten und Holocaust-Überlebenden, später auch durch zivilgesellschaftliche Initiativen. Glaubt man Umfragen, halten große Teile der Bevölkerung die fortwährende Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit für notwendig. Einen Konsens hat es diesbezüglich aber nie gegeben. Wer an Nationalstolz interessiert ist oder seinen Rassismus und Antisemitismus ungehemmt ausleben möchte, dem bleibt diese Erinnerungskultur ein Dorn im Auge.

Gaskammer in Auschwitz (Foto: Kay Nietfeld / picture alliance / dpa )

Kratzspuren an den Wänden erinnern an die Qualen der Häftlinge in der rekonstruierten Gaskammer im früheren Konzentrationslager Auschwitz

(Foto: Kay Nietfeld / picture alliance / dpa )

Gedenkstätten berichten, dass zunehmend versucht wird, die Verbrechen zu relativieren, indem zum Beispiel auf deutsches Leid und deutsche Opfer verwiesen wird oder historische Fakten infrage gestellt werden.

Das sind Strategien der Schuldabwehr. Das hat es nach meiner Erfahrung immer gegeben. Damit muss man pädagogisch umgehen, indem man die Strategien aufdeckt. Derzeit scheinen diese Relativierungen aber vermehrt auch in organisierter Form aufzutreten, dass Leute sich also beispielsweise unter normale Besuchergruppen mischen und provozieren. Da muss man diskutieren, wie man auf solche Angriffe reagiert. Diese Diskussion findet auch statt. Aber fast noch wichtiger – und sehr viel schwieriger – scheint mir die Frage, wie man sich dazu verhält, dass mit der AfD eine in Teilen rechtsextreme Partei massiv an Einfluss gewinnt.

Wie reagieren die Gedenkstätten bisher?

Die politische und geschichtskulturelle Agenda der AfD wird offen kritisiert. In Niedersachsen konnte verhindert werden, dass die AfD in die Gedenkstättengremien einzieht, in Buchenwald werden AfD-Politiker von Gedenkveranstaltungen ausgeschlossen. Die Frage ist, wie lange man das durchhält. Die meisten Gedenkstätten werden aus staatlichen Mitteln finanziert. Was ist, wenn die AfD doch mal in einer Regierung sitzt? Arrangiert man sich dann? Oder verhält man sich widerständig und ist bereit, den Preis zu bezahlen?

„Es waren Erwachsene, die die Verbrechen begangen haben. Vor allem sie sollten angehalten sein, Gedenkstätten zu besuchen.“

Sollte der Besuch einer KZ-Gedenkstätte für Schülerinnen und Schüler zur Pflicht werden? Das wird immer wieder diskutiert.

Den Begriff der Pflicht finde ich schwierig. Schön wäre, wenn man allen Schülerinnen und Schülern eine Gedenkstättenfahrt ermöglicht. Und zwar eine, die nicht nur in einer kurzen Führung besteht, sondern mit einer Projektarbeit verbunden ist, die auf eigenen Fragen beruht. Viele Lehrkräfte sagen, dass sie dafür keine Zeit haben. Vielleicht braucht es also erst mal mehr Spielraum in den Lehrplänen, bevor man zu etwas verpflichtet, was dann eben auch nur pflichtgemäß gemacht wird. Allerdings irritiert mich bei diesen Diskussionen die Fixierung auf Jugendliche.

Warum?

Es waren Erwachsene, die die nationalsozialistische Gesellschaft gestaltet haben, die Verbrechen geplant und begangen haben. Und es sind auch heute Erwachsene, die die Gesellschaft prägen und Entscheidungen treffen. Von daher denke ich, dass vor allem Erwachsene angehalten sein sollten, Gedenkstätten zu besuchen.

Machen die Gedenkstätten ihnen Angebote?

Auf jeden Fall. Zum Beispiel Fortbildungen, in denen sie sich mit der Rolle ihrer eigenen Berufsgruppe beschäftigen können. Juristen haben antijüdische Gesetze gemacht, Krankenschwestern haben Kinder ermordet, Bäcker haben Konzentrationslager beliefert. Menschen, die diese Jobs heute machen, kommen über diesen Bezug in eine persönliche Auseinandersetzung: Wie konnte es dazu kommen? Wie hätte ich mich verhalten? Wie verhalte ich mich eigentlich heute?

Die NS-Vergangenheit rückt zeitlich immer weiter in die Ferne. Wie hält man Erinnern relevant?

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Cornelia Siebeck

Cornelia Siebeck forscht und schreibt zum gesellschaftlichen Umgang mit den NS-Verbrechen. Sie arbeitet für verschiedene Gedenkstätten und engagiert sich beim Aktiven Museum Faschismus und Widerstand in Berlin. (Foto: Christoph Kalter)

Das sollten Sie vielleicht jemanden fragen, der an der Gegenwartsrelevanz dieser Vergangenheit zweifelt. Für mich war sie seit jeher relevant. Ich war ein rebellischer Teenager. Als ich begriffen habe, was sich in diesem Land nur wenige Jahrzehnte zuvor abgespielt hat, habe ich mich bedroht gefühlt. Mir war klar, dass ich da so, wie ich leben wollte, nichts zu lachen gehabt hätte. Als ich mitbekam, dass es immer noch Nazis gibt, stand die Gegenwartsrelevanz gar nicht mehr zur Debatte. Heute würde ich diese Relevanz anders begründen, aber erst mal kommt es darauf an, dass einem die NS-Vergangenheit nicht als etwas „Fremdes“ entgegentritt, sondern dass man sich von ihr berühren lässt. Ich gebrauche dafür gern den etwas aus der Mode gekommenen Begriff der Betroffenheit. Damit meine ich nicht leere Sentimentalität, sondern die Erkenntnis, dass mich diese Vergangenheit betrifft, dass ich in diese Geschichte involviert bin.

Betroffenheit lässt sich nicht künstlich herstellen.

Stimmt. Aber das ist auch gar nicht nötig: Diese Vergangenheit betrifft uns alle, ob wir wollen oder nicht. Der Nationalsozialismus ist vorbei, aber die Ideologien und gesellschaftlichen Mechanismen, auf denen er aufbauen konnte, sind nach wie vor da. Der Zweite Weltkrieg und die Massenverbrechen wirken in aller Welt nach, sowohl psychologisch als auch realpolitisch. Seit 75 Jahren vergeht kein Tag, an dem nicht über diese Vergangenheit und ihre Folgen gesprochen wird, hier und anderswo. So gesehen ist es auch ziemlich unerheblich, ob meine Vorfahren hier gelebt haben oder nicht. Das ist eine globale Geschichte, die keineswegs abgeschlossen ist. Gute Erinnerungsarbeit schafft Momente, in denen diese Gegenwart der Vergangenheit schlaglichtartig erkennbar wird.

 

Titelbild: Beata Zawrzel / picture alliance / NurPhoto 

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