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Lückenlos aufgeklärt?

In München ist das Urteil gesprochen und damit der NSU-Prozess nach fünf Jahren beendet. Viele Angehörige der Opfer sind enttäuscht: Zu viele Fragen seien nach wie vor offen

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Enver Simsek

Enver Şimşek, am 9. September 2000 in Nürnberg ermordet

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Abdurrahim Özüdogru

Abdurrahim Özüdoğru, am 13. Juni 2001 in Nürnberg ermordet

Den Saal 101, gedrungen, fensterlos mit kühlem Neonlicht und betongrauen Wänden, wird kaum jemand vermissen. Fünf Jahre lang fand hier am Oberlandesgericht München ein Strafprozess von historischer Größe statt. Am 438. Verhandlungstag spricht Richter Götzl endlich das Urteil. Die Hauptangeklagte Beate Zschäpe wird wegen zehnfachen Mordes zu „lebenslanger“ Haft verurteilt – das Höchstmaß –, die anderen Angeklagten bekommen zum Teil mildere Strafen, als von Prozessbeobachtern erwartet wurde: Waffenbeschaffer Ralf Wohlleben wird wegen Beihilfe zum Mord zu zehn Jahren Haft verurteilt, Holger G. zu drei Jahren, André E. zu zweieinhalb Jahren und Carsten S. zu drei Jahren Jugendstrafe. Danach legt sich Stille über den Saal.

Draußen vor dem Oberlandesgericht versammeln sich derweil lautstark Demonstranten. Sie wollen das Urteil nicht anerkennen. Ihre Forderung: „Kein Schlussstrich!“ Auch Gamze Kubasik, deren Vater Mehmet am 4. April 2006 in seinem Kiosk in Dortmund ermordet wurde, hatte zu der Demonstration aufgerufen: „Wir haben uns viele Antworten von dem Prozess erhofft. Aber die fünf Jahre Prozess waren eine Enttäuschung.“ Was hätte aus Sicht der Opfer und der Angehörigen der Getöteten im Prozess thematisiert werden müssen? Diese drei Punkte betonten Betroffene vor Gericht und bei ihrer Pressekonferenz im Vorfeld der Urteilsverkündung. 

Viele sind überzeugt: Dass der NSU so lange unentdeckt blieb, liegt am institutionellen Rassismus

Am 6. April 2006 erschießen Uwe Bönhardt und Uwe Mundlos Halit Yozgat in seinem Kasseler Internetcafé. Einige Tage darauf organisiert seine Familie einen Schweigemarsch. Auch die Angehörigen von Enver Şimşek und Mehmet Kubaşık, weitere Opfer des NSU, kommen nach Kassel. Neun Morde waren bis zu diesem Zeitpunkt mit derselben Waffe begangen worden. Die 4.000 Demonstranten, die meisten aus migrantischen Communitys, hatten keinen Zweifel: Diese Mordserie hat ein rassistisches Motiv. In den großen Zeitungen wird derweil von „Dönermorden“ geschrieben und von Sonderkommissionen mit den Namen „Halbmond“ und „Bosporus“ ermittelt. Die Ermittler werden später vor dem Bundestags-Untersuchungsausschuss aussagen, dass ihre Fantasie schlichtweg nicht ausgereicht habe, um von rechtsextremem Terrorismus auszugehen. Für sie wahrscheinlicher? Ein Bandenkrieg unter Migranten. Vertreter der Opfer sind überzeugt: Es ist institutioneller Rassismus, der dazu führte, dass der NSU nicht früher enttarnt wurde.

Das Wissen der Angehörigen sei nicht ernst genommen worden. Tatsächlich wurde in fast allen Fällen gegen sie ermittelt, weil man davon ausging, dass ihre Ehemänner, Väter und Nachbarn in organisierte Kriminalität verwickelt waren. Die Ermittler sahen die Toten nicht als Opfer, sondern als Täter. „Die Polizei hat alles versucht, um meinen Vater als Schuldigen darzustellen“, erinnerte sich zum Beispiel gestern der Sohn des ersten Mordopfers Enver Şimşek, Abdulkerim Şimşek. Diesen institutionellen Rassismus in Ermittlungsbehörden, den sogar die UN mit Blick auf Deutschland anprangern, hat die Nebenklage immer wieder thematisiert. 

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Süleyman Tasköprü

Süleyman Taşköprü, am 27. Juni 2001 in Hamburg ermordet

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Habil Kilic

Habil Kılıç, am 29. August 2001 in München ermordet

Wie wurden die Opfer ausgewählt?

Kritiker bemängeln, dass die Perspektive der Betroffenen nicht nur bei den Ermittlungen, sondern auch im Prozess zu selten eingenommen wurde. Brennende Fragen der Hinterbliebenen seien deshalb unbeantwortet geblieben: Nach welchen Kriterien hat das Trio seine Opfer ausgewählt? Hat ihm jemand dabei geholfen? In der Zwickauer Wohnung des Trios wurde eine Liste mit 10.000 Namen gefunden: mögliche Opfer, zu denen stichwortartig Informationen zusammengetragen worden waren: „Imbiss. Problem Tankstelle nebenan. Türke aus Tankstelle geht in jeder freien Minute zu Reden rüber.“ Konnten drei im Untergrund lebende Menschen so genaue Kenntnisse von so vielen Orten sammeln? Die These, dass ihnen dabei Neonazis aus ganz Deutschland halfen, ist bis heute weder bestätigt noch widerlegt worden. 

Die Bundesanwaltschaft vertrat die These von einem weitestgehend isoliert operierenden Trio. Laut NebenklägerInnen und ProzessbeobachterInnen muss es mehr als die vier angeklagten Hintermänner und Helfershelfer gegeben haben. Sie glauben, dass der NSU aus einem größeren Netzwerk bestand. Zu dieser Einschätzung kam auch der Vorsitzende des zweiten NSU-Untersuchungsausschusses des Bundestags.  

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Mehmet Turgut

Mehmet Turgut, am 25. Februar 2004 in Rostock ermordet

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Ismail Yasar

İsmail Yaşar, am 9. Juni 2005 in Nürnberg ermordet

„Ich kann nicht abschließen, weil ich nicht verstehe, warum Akten geschreddert werden und niemand zur Verantwortung gezogen wird. Es kommt mir so vor, als ob alles umsonst gewesen ist.“ (Abdulkerim Şimşek)

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Theodorus Boulgarides

Theodoros Boulgarides, am 15. Juni 2005 in München ermordet

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Mehmet Kubasik

Mehmet Kubaşık, am 4. April 2006 in Dortmund ermordet

Welche Rolle spielte der Verfassungsschutz?

Dreizehn Jahre lang konnte der NSU im Untergrund leben. Der Verfassungsschutz war ihm stets auf der Spur. Ungefähr 40 V-Männer, also vom Verfassungsschutz angeheuerte Spitzel in der rechten Szene, gab es im Umfeld des NSU. Sie lieferten Hinweise, die Kritikern zufolge in den Verfassungsschutzämtern nicht genügend Beachtung fanden. „Mangelnde Analysefähigkeit“ attestiert der erste Bundestags-Untersuchungsausschuss dem Verfassungsschutz. Einen Tag nachdem sich das NSU-Trio im November 2011 selbst enttarnte, ließ ein Mitarbeiter im Kölner Bundesamt für Verfassungsschutz Akten vernichten, die Informationen aus dem Umfeld des NSU beinhalteten. Auch in anderen deutschen Behörden wurden zahlreiche Akten mit NSU-Bezug geschreddert.

Diese Vorfälle sind für die einen einfach nur Futter für Verschwörungstheorien, für die anderen zeigen sie ein großes Behördenversagen oder gar eine mögliche staatliche Verwicklung in den NSU-Komplex auf. Ein besonders heiß diskutierter Fall: Ein Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes, Andreas Temme, war während des Mordes an Halit Yozgat am Tatort anwesend. Er chattete im Nachbarzimmer mit einer Internet-Bekanntschaft. Die Schüsse habe er nicht gehört und auch die Leiche hinter dem Tresen nicht gesehen. An dieser Aussage hegen vor allem die VertreterInnen der Opfer großen Zweifel. Eine Londoner Forschergruppe baute sogar das Internetcafé im Maßstab 1:1 nach. Ihrer Ansicht nach ist Temmes Version der Geschichte nicht plausibel. Sieben Mal wurde Temme als Zeuge vor Gericht geladen. Er blieb bei seiner Aussage. Was genau am Tattag geschah, ist noch nicht restlos geklärt. Die Hinterbliebenen kritisieren das scharf. 

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Halit Yozgat

Halit Yozgat, am 6. April 2006 in Kassel ermordet

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Michele Kiesewetter

Michèle Kiesewetter, am 25. April 2007 in Heilbronn ermordet

Wo ist der Ort für lückenlose Aufklärung?

Der Angehörige Abdulkerim Şimşek sagte gestern bei der Münchner Pressekonferenz: „Ich kann nicht abschließen, weil ich nicht verstehe, warum Akten geschreddert werden und niemand zur Verantwortung gezogen wird. Es kommt mir so vor, als ob alles umsonst gewesen ist.“ Die VertreterInnen der Opfer und der Hinterbliebenen hatten sich vor Prozessbeginn vorgenommen, diese größeren Zusammenhänge des NSU-Komplexes vor Gericht zu thematisieren. Doch viele Anträge scheiterten an Zeugen, die sich nicht erinnern konnten, oder wurden vom Gericht nicht bewilligt, weil es in einem Strafprozess um die individuelle Schuld einzelner Angeklagter geht. Den gesamten NSU-Komplex zu beleuchten war im Münchner Prozess nicht vorgesehen. Den Nebenklägern zufolge hätte aber sehr viel mehr ans Licht kommen können, wenn die Bundesanwaltschaft nicht von einer dreiköpfigen Terrorzelle ausgegangen wäre, sondern von einem größeren Netzwerk. Dieses wollen die Vertreter der Opfer und der Hinterbliebenen weiterhin ausfindig machen. Dafür fordern sie volle Akteneinsicht. Auch für die Demonstranten in München und die Hinterbliebenen ist klar: Zu viele Fragen sind trotz der zwölf parlamentarischen Untersuchungsausschüsse und des fünfjährigen Prozesses offengeblieben. Fragen, die vielleicht nicht in diesen Strafprozess gehörten. Aber es sind Fragen, auf die sich die Hinterbliebenen Antworten erhoffen. Wer sie ihnen geben kann? Zunächst setzen sie auf ihre eigenen Nachforschungen. Und den Druck einer kritischen Öffentlichkeit. 

Momentan laufen noch Ermittlungen gegen neun mutmaßliche Unterstützer des Trios. Vielleicht wird es weitere NSU-Prozesse geben. Zschäpes Anwälte haben bereits angekündigt, dass sie gegen das Urteil Revision einlegen werden. Die Nebenkläger und die Opfer fürchten jedoch, dass die Aufarbeitung des NSU-Komplexes mit dem Urteilsspruch für viele abgeschlossen ist. 

Mehr Informationen über den NSU und zu Rechtsextremismus findest du auf bpb.de

Fotos: Polizei-Handouts/Norbert Försterling/dpa

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