fluter.de: Frau Yıldırım, warum kommt die Studie gerade jetzt?
Deniz Yıldırım: Die Initiativgruppe, ein Bündnis aus vielen zivilgesellschaftlichen Organisationen, ist 2019 an uns von „Citizens for Europe“ herangetreten, weil sie wissen wollte: Wie divers ist die deutsche Film- und Fernsehbranche eigentlich, welche Diskriminierungserfahrungen gibt es, und wie könnte man die Branche inklusiver und gerechter machen? Dafür haben wir uns die Arbeitsbedingungen der Filmschaffenden angeschaut. Initiativen wie #MeToo, #keinrassismusproduzieren und #ActOut haben ja gezeigt, dass in der Branche schon länger etwas brodelt.
Haben Sie eine Erklärung dafür, warum es bis jetzt noch keine Daten dazu gab?
Wenn es um die Frage geht, ob man Daten zu diskriminierten Gruppen erheben sollte, wird oft mit der Zeit des Nationalsozialismus argumentiert, in der solche Daten missbraucht wurden. Dahinter steckt aber ein falscher Gedanke. Denn indem man Diskriminierung nicht offenlegt, wird sie toleriert. Die Communitys, die zum Beispiel rassistisch diskriminiert werden, sagen heute selbst, dass sie diese Daten haben wollen, um offenzulegen, wie stark der Rassismus ist und wie er strukturell wirkt.
Wie sind Sie bei der Studie genau vorgegangen?
Wir haben uns die Frage nach Vielfalt und Diskriminierung im Hinblick auf Mehrfachzugehörigkeiten angeschaut – also anhand aller Dimensionen, die im allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz genannt werden: Geschlechtsidentität, sexuelle Orientierung, Religion, Weltanschauungen, Behinderung oder Beeinträchtigung, rassistische Diskriminierung, Alter. Diesen Katalog haben wir um die Aspekte sozialer Status, DDR oder Ostsozialisation und Gewichtsdiskriminierung erweitert. Die meisten der Befragten haben ein bis drei Mehrfachzugehörigkeiten genannt. Deshalb ist diese Studie auch ein starkes Plädoyer dafür, mehr auf die Überschneidung von Diskriminierungskategorien, die sogenannte Intersektionalität, zu schauen. Diskriminierung lässt sich nur abbauen, wenn man die Zusammenhänge versteht.
Für ihre Erhebung werteten Yildirim und ihr Team von der gemeinnützigen Organisation „Citizens for Europe“ rund 5.500 online ausgefüllte anonyme Fragebögen aus. Die Antworten stammen von Menschen ab 16 Jahren aus 440 unterschiedlichen Berufen vor und hinter der Kamera. Die Umfrage lief zwischen Juli und November 2020 und wurde unter anderem von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes gefördert. Die ausführlichen Ergebnisse sind hier nachzulesen.
Gibt es Gruppen, die besonders stark diskriminiert werden?
Die meiste Diskriminierung wird von Frauen aufgrund ihres Geschlechts erlebt. Gleichzeitig muss man sagen: Während 80 Prozent der befragten Frauen angegeben haben, schon irgendwann einmal aufgrund ihres Geschlechts diskriminiert worden zu sein, werden die 13 Prozent der Befragten, die rassistisch diskriminiert werden, regelmäßig diskriminiert. Und Menschen mit Rassismuserfahrung sind zugleich nur zu ungefähr 16 Prozent an der „Gestaltungsmacht“ beteiligt – also der Frage, welche Geschichten erzählt werden. Bei der „Besetzungsmacht“ – also der Frage, wer die Geschichten umsetzt – sind es nur neun Prozent. Dabei machen Menschen mit Migrationsgeschichte derzeit 26 Prozent der deutschen Bevölkerung aus. Da sehen wir also noch viel Luft nach oben.
Gleichzeitig ist Vielfalt nicht gleich Vielfalt: Oft wird zwar Diversität abgebildet, aber auch wieder nur in gängigen Klischees.
Ja, das hat unsere Umfrage bestätigt. Wir haben gefragt, inwieweit die Teilnehmenden zustimmen, dass bestimmte Gruppen klischeehaft dargestellt werden – zum Beispiel arabisch oder muslimisch gelesene Menschen oder Sinti und Roma, aber auch Menschen mit ostdeutschem Akzent oder solche mit Behinderung. Da haben wir für fast alle Gruppen sehr, sehr hohe Zustimmungswerte. Am höchsten liegen sie für arabisch und muslimisch gelesene Menschen und für Sinti und Roma.
Was für Klischees sind das?
Ein Befragter hat erzählt, dass ihm Caster und Agenten vorgeschlagen hätten, einen anderen, „weniger arabisch“ klingenden Künstlernamen anzunehmen. Arabisch gelesene oder Schwarze Schauspieler bekommen außerdem oft nur Rollenangebote als Drogendealer oder Terrorist. Daran sieht man: Klischees sind einerseits noch weit verbreitet, und Schauspieler*innen sind andererseits einem Druck ausgesetzt, diese Stereotype darzustellen. Das Ergebnis ist oft, dass Film- und Fernsehen nicht die Lebensrealität dieser Gruppen abbilden.
„Es zeigt sich, dass die Diskriminierung schon vor dem eigentlichen Job anfängt, wenn bestimmte Personen gar nicht erst in die Branche reinkommen“
Sie haben es gerade schon angedeutet: Ein großer Aspekt beim Thema Diskriminierung ist die sexuelle Belästigung. Zu welchen Ergebnissen kommt Ihre Studie da genau?
81 Prozent der Cis-Frauen, die an der Umfrage teilgenommen haben, haben bereits sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz erlebt – bei Frauen of Color war diese Zahl mit 83 Prozent noch etwas höher. Auch das Alter ist ein verschärfender Faktor: Frauen zwischen 25 und 35 Jahren haben zu 89 Prozent sexuelle Belästigung erlebt. Das sind sehr deutliche Zahlen, die zeigen, wie sehr sexuelle Belästigung in der Filmbranche strukturell verankert ist und wie sie das Arbeitsklima beeinträchtigt.
Was außerdem auffällt, ist, dass zwei von drei Personen, die sexuelle Belästigung erfahren haben, diese nicht gemeldet haben.
Das hat uns auch sehr überrascht. Ein Drittel der Befragten, die einen Vorfall gemeldet haben, berichteten außerdem, dass es nicht nur keine Konsequenzen gab, sondern dass sich die Belästigung sogar wiederholt hat. Dahinter stecken ganz bestimmte Strukturen, die das erst möglich machen: Sexuelle Belästigung geht in neun von zehn Fällen von Männern aus, die in Machtpositionen sitzen. Also genau von denen, die über Jobs entscheiden und eigentlich gewährleisten sollten, dass Arbeitsräume frei von Diskriminierung sind. Deshalb glauben wir, dass die Dunkelziffer extrem hoch sein muss. Denn wenn man immer wieder sieht, dass es für ein solches Verhalten keine Konsequenzen gibt, traut man sich nicht, so etwas zu melden – aus Angst, dann bei Castings oder anderen Jobs nicht zum Zug zu kommen.
Gibt es andere Ergebnisse, die Sie überrascht haben?
Mich hat generell das Ausmaß der Diskriminierungserfahrungen überrascht, aber auch, welche Unterschiede es mitunter gibt. Zum Beispiel, dass Menschen mit Beeinträchtigung viel mehr unentgeltlich arbeiten müssen als Menschen ohne Beeinträchtigung. Wichtig ist auch, darauf zu schauen, wer im Datensatz fehlt: zum Beispiel alleinerziehende Frauen. Das zeigt, dass die Diskriminierung schon vor dem eigentlichen Job anfängt, wenn bestimmte Personen gar nicht erst in die Branche reinkommen.
Welche Konsequenzen erhoffen Sie sich – jetzt, da die Zahlen vorliegen?
Die Betroffenen wissen selbst am besten, was sie brauchen. Ihnen ist zum Beispiel wichtig, dass es klare Konsequenzen für die Täter*innen gibt und schnellere Handlungsoptionen für den Akutfall. Wichtig wäre außerdem, dass Nackt- oder Intimszenen durch verbindliche Regeln gerahmt werden. Dass ein Caster zu einer Schauspielerin nicht einfach beim Casting sagen kann: „Ja, dann zieh dich jetzt mal aus.“ Man muss sich ja klarmachen: All diese diskriminierenden Verhaltensweisen verstoßen gegen Gesetze. Und die Führungskräfte sind dafür verantwortlich, dass diese Gesetze eingehalten werden. Jetzt, da wir sehen, dass es ein strukturelles Problem mit sexueller Belästigung und Diskriminierung in der Branche gibt, ist es an der Filmbranche und der Politik, einen Dialog zu starten – und sich eventuell weitere gesetzliche Regelungen zu überlegen.
Deniz Yıldırım, 39, hat Soziologie studiert und danach an den Universitäten Duisburg-Essen und Kassel geforscht. Bei „Citizens for Europe“ arbeitet sie als „Head of Research“ und beschäftigt sich vor allem mit der Frage, wie man soziale Ungleichheit messen kann.
Illustration: Frank Höhne