Thema – Terror

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„Komm zu uns, und du kannst Geschichte schreiben“

Wie groß ist die Gefahr durch Islamismus noch? Wir haben einen Experten gefragt

fluter.de: Beschäftigt Islamismus die Sicherheitsbehörden überhaupt noch, seitdem der sogenannte Islamische Staat (IS) als zerschlagen gilt? 

Marwan Abou-Taam: Ja. Denn der IS ist nicht nur eine Organisation, sondern auch eine Idee, die sich in verschiedenen Varianten immer wieder finden lässt. Der IS ist nichts anderes als die Fortführung der al-Qaida mit anderen Mitteln, und diese ist die Folge einer Politisierung des Islam. Die verschiedenen Organisationen sind im Kontext ihrer Region entstanden, al-Qaida im Jemen beispielsweise, al-Shabaab in Somalia, die Taliban in Afghanistan, aber alle beziehen sich auf eine vergleichbare Ideologie.

Was macht diese Ideologie aus? 

Sie ist per Selbstdefinition antiwestlich. Ihre Anhänger sehen sich als Gegenpart zu einer aus ihrer Perspektive existierenden Dominanz des Westens. Sie suchen in der Geschichte des Islam, im Koran und anderen Schriften nach Legitimation für eine islamische Herrschaft. Dieser Prozess hat in der islamischen Welt begonnen, aber inzwischen ist die gewalttätige Ausprägung, der Dschihadismus, ein globales Phänomen.

Auch in Deutschland findet diese Ideologie Anhänger. Was begeistert die so am IS, dass sie in ein Kriegsgebiet ziehen? 

Dabei spielen verschiedene Faktoren eine Rolle. Einmal das Angebot, das der IS gemacht hat: Komm zu uns, bei uns kannst du Geschichte schreiben und einen neuen Staat aufbauen. Dazu kommt, dass es anfangs sehr einfach war, hinzukommen. Für 50 Euro war man mit einem günstigen Flug und einem Sammeltaxi bis zur Grenze mittendrin. Das hat sich später geändert, als die Türkei und Russland die Vereinbarung getroffen haben, die Grenze für Europäer zu schließen. Spannenderweise beginnt der IS ab diesem Zeitpunkt, an Wucht zu verlieren.

Welche Rolle hat die IS-Propaganda gespielt? 

Die Propaganda hat gezielt Abenteuerlust geschürt. In einem bestimmten Alter widmet man sich revolutionären Gedanken, oft auch als Rebellion. Ohne den Krieg wären wahrscheinlich nicht so viele junge Menschen auf die Idee gekommen, sich in diese Richtung zu radikalisieren. Der Konflikt hat wie ein Magnet gewirkt, mit seinem Abflauen nahmen auch die Ausreisen ab. Wir haben sehr professionelle Propagandavideos ausgewertet, in denen der IS diesen Krieg als Spielplatz dargestellt hat. Männer, die mit glänzenden Gewehren rumballern und umherziehen.

„Salafisten werfen der westlichen Gesellschaft vor, sie wäre übersexualisiert. Gleichzeitig locken sie junge Männer mit Frauenversprechen nach Syrien“

Gab es sonst noch Versprechen? 

Ja, überraschenderweise Sexualität. Salafisten werfen der westlichen Gesellschaft vor, sie wäre übersexualisiert. Gleichzeitig locken sie junge Männer mit Frauenversprechen nach Syrien: Entweder du bekommst die Frau als Sklavin, oder du bekommst eine freie Frau, mit der du Kinder machen kannst. Und wenn du tot bist, bekommst du sie als Jungfrauen. Für den IS sind Frauen eine wichtige Ressource. Sie organisieren den sozialen Rückhalt und spielen ebendiese zentrale Rolle in den Versprechungen. Die freien Frauen aber mussten weltweit rekrutiert werden. Dafür hat der IS riesige Anstrengungen unternommen.

Womit hat der IS diese Frauen angelockt? 

Eines der Hauptmotive vieler junger Frauen ist Gleichberechtigung. Das Spannende am Salafismus ist, dass er sagt: Was die Frauen nicht dürfen, ist auch den Männern verboten. In vielen konservativen muslimischen Familien in Deutschland gelten strikte Sexual- und Moralregeln für die Töchter, aber weniger für die Söhne. Die salafistischen Prediger in Deutschland haben argumentiert, dass das falsch sei, und den Mädchen so eine Art Geschlechtergerechtigkeit versprochen. Interessant ist auch: Viele der ausgereisten Frauen sind Konvertitinnen. Frauen, die eigentlich mit allen Freiheiten aufgewachsen sind, das zu erleben, was ihnen Spaß macht. Sie haben sich freiwillig in die Sprachlosigkeit begeben.

Warum macht eine Frau das? 

Die vielen Rollen, die möglichen Lebensvorstellungen, die eine liberale Demokratie bietet, diese Variationen überfordern durchaus manche Menschen. In vielen extremistischen Gruppen, nicht nur im Islam, gibt es Personen, die sich bereitwillig einer Rolle zuordnen lassen. Der Salafismus ist eine männlich geprägte Ideologie. Die Frau spielt nur eine nachgeordnete Rolle. Aber es ist eine klare Rolle mit klaren Erwartungen.

Dr. Marwan Abou-Taam ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Landeskriminalamts Rheinland-Pfalz. Seine Schwerpunkte sind internationaler Terrorismus, innere Sicherheit und Salafismus.

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.