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Meine Mutter ist Alkoholikerin

Unser Autor hat Jahre gebraucht, sich den Alkoholismus einzugestehen. Und bis heute Angst, wie seine Mutter zu werden

Illustration: Gregory Gilbert-Lodge

„Manchmal wünsche ich mir, meine Mutter wäre endlich tot.“ Die anderen sehen mich an. Und nicken.

Sie sind mit alkoholkranken Eltern aufgewachsen, so wie ich. Heute treffen wir uns in einem Berliner Gemeindezentrum, um darüber zu sprechen, was der Alkoholismus der Eltern in uns ausgelöst hat: Probleme in Beziehungen, Süchte, selbstverletzendes Verhalten. Meine Mutter war keine, die nur hier und da mal ein Glas Wein zu viel hatte, sondern eine, die dauerdicht war, gewalttätig wurde und emotional übergriffig.

„Einen Tag schubst mich meine Mutter durch den Flur, am nächsten macht sie mir Geschenke und hilft bei den Hausaufgaben“

Ostern 2001. Meine Eltern sind getrennt. Papa sehe ich selten, er ist beruflich viel unterwegs. Aber dieses Wochenende verbringe ich bei ihm, wir bemalen Ostereier. Als ich Sonntagabend nach Hause komme, kommt meine Mutter aus der Küche, schlägt mir die bemalten Eier aus der Hand und ohrfeigt mich. Ich falle auf den Boden. Sie schiebt mich mit den Füßen in mein Zimmer und schließt die Tür ab. Nachts nimmt sie die Kuscheltiere aus meinem Bett und steckt sie in einen Müllsack. Ich tue, als würde ich schlafen.

Heute weiß ich, dass sie damals Angst hatte, verlassen zu werden. Sie bestrafte mich, weil ich bei meinem Vater gewesen war. Wut war einer ihrer Wege, die Kontrolle zu behalten. Sie wusste es nicht besser. Und machte meine Kindheit zu einem Krieg, den ich nur verlieren konnte: Ich versuchte, meine Mutter glücklich zu machen. Wenn ich das perfekte Kind wäre, würde sie schon aufhören zu trinken, dachte ich.

Rund 1,77 Millionen Menschen in Deutschland gelten als alkoholabhängig, deutlich mehr Männer als Frauen

Nur änderte sich ihre Vorstellung von einem perfekten Sohn je nach Pegel und Tageszeit. Einmal wurde ich geherzt, wenn ich sie umarmte, ein anderes Mal begann sie zu weinen. Ein drittes Mal bekam ich eine Ohrfeige.

„Kinder von Alkoholikern erleben ihre Umwelt oft als nicht vorhersehbar und unkontrollierbar“, sagt die Psychologin Ulrike Schneider-Schmid, die sich auf Suchterkrankungen spezialisiert hat. „Das kann massive Traumata auslösen und sich in psychischen Erkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen äußern.“

In Deutschland wachsen rund 2,7 Millionen Kinder bei Alkoholikern auf. Kinder, die später wahrscheinlich mit emotionalen Problemen zu kämpfen haben, sagt Ulrike Schneider-Schmid. „Von unseren Eltern lernen wir alles über das Leben. Papa und Mama wissen alles, haben immer recht.“ Wenn meine Mutter mir sagte, ich sei zu nichts zu gebrauchen, glaubte ich ihr. Von klein auf fühlte ich mich hilflos, schuldig, wertlos. An Selbstmord dachte ich das erste Mal mit 13, meine erste Panikattacke hatte ich mit 22.

Für Alkoholwerbung wurden 2016 rund 557 Millionen Euro ausgegeben (in TV-, Rundfunk-, Plakat- und Printwerbung)

Meine Mutter hatte häufig neue Typen, wegen denen wir auch umzogen. Mit 16 suchte ich schon zum vierten Mal Anschluss in einer neuen Schule und einer neuen Stadt. Aber die Umzüge hatten auch ihre Vorzüge: Wenn meine Mutter einen neuen Freund hatte, trank sie weniger, rauchte weniger, sah besser aus, war liebevoll und großzügig. Sie mimte die perfekte Mutter.

„Das Verhalten von Alkoholikern bezieht sich meist nicht auf die Menschen um sie herum, sondern auf ihre eigene Sucht“, sagt Schneider-Schmid. Ihr Gehirn verändere sich mit fortschreitender Sucht massiv, Empathie, Werte und Pläne fallen der Sucht zum Opfer. So war es mit jedem neuen Mann, in jeder neuen Stadt: Irgendwann kippte das Verhalten meiner Mutter. Die Sucht gewann, ihre Fassade brach.

„Manchmal wünsche ich mir, meine Mutter stirbt – und mit ihr meine Probleme“

Ich musste 18 werden, um zu erkennen, was zu Hause passiert, und um mir einzugestehen: Meine Mutter ist Alkoholikerin. Ich brauchte so lange, weil ich Familienleben nur so kannte: Einen Tag schubst mich meine Mutter durch den Flur, am nächsten macht sie mir Geschenke und hilft bei den Hausaufgaben. Sie war geübt darin, mir die Schuld an ihren Launen zu geben. Was ich auch tat, es war falsch. Selbst an dem Tag, als ich sie auf ihre Sucht ansprach. „Mama, du brauchst Hilfe.“ Sie wollte es nicht hören, schrie, dass ich der Grund für ihre Probleme sei, und drehte mir den Strom im Zimmer ab.

40.000 Gewalttaten wurden 2016 unter Alkoholeinfluss verübt – knapp ein Drittel aller aufgeklärten Fälle im Bereich der Gewaltkriminalität (Quelle: Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen)

An diesem Abend vor acht Jahren zog ich zu meinem Vater. Ich habe meine Mutter seither nicht mehr gesehen.

Aber sie begleitet mich bis heute: Suchtverhalten ist erblich. Als Kind erstickte ich meinen Kummer in Fressattacken, als Jugendlicher in Drinks, den richtigen Sneakern und Überstunden. Manchmal wünschte ich mir, meine Mutter stirbt – und mit ihr meine Probleme.

Da das nur eine kindliche Fantasie war, musste ich mich um mich selbst kümmern. Heute trinke ich keinen Alkohol mehr. Ich gehe zur Selbsthilfegruppe und spreche mit einem Therapeuten. Ich habe gelernt auszudrücken, was ich fühle, wenn ich etwas fühle. Dass Verdrängen nicht lang anhält. Dass ich meine Mutter nachahme, wenn ich vor emotionalen Partnern oder Freunden flüchte. Und dass sich meine Umwelt nicht fügt, weil ich den perfekten Sohn, Kollegen oder Kumpel zu geben versuche.

Heute kann ich mir vorstellen, selbst Kinder zu haben. Bis es so weit ist, will ich die Hinterlassenschaften meiner trinkenden Mutter in mir erkannt haben. Das fängt so an: Ich darf fühlen, ich darf reden, ich darf vertrauen. Mit Mitte 20 ziehe ich mich noch einmal selbst groß.

Illustration: Gregory Gilbert-Lodge

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.