Der Text ist ein Auszug aus „Der Gesang der Bäume: Die verborgenen Netzwerke der Natur“ von David G. Haskell, erschienen im Verlag Antje Kunstmann.
Der Artenreichtum im Amazonasgebiet sucht weltweit seinesgleichen: 600 Baumarten wachsen auf nur einem Hektar, mehr als in ganz Nordamerika. Und auf dem nächsten Hektar, den wir untersuchen, kommen noch weitere hinzu. Angesichts solch botanischer Wirrungen und Wonnen ist mein rettender Fixpunkt im Regenwald ein Kapokbaum, Ceiba pentandra, von der lokalen Bevölkerung Ceibo (gesprochen „säibo“) genannt.
Um ihn zu umrunden, mitsamt seiner Stützwurzeln, die sich in Kopfhöhe strahlenförmig vom Stamm zum Boden neigen, brauche ich 29 Schritte. Sein Stammdurchmesser beträgt drei Meter, einen Meter mehr als die Säulen des Parthenon-Tempels auf der Akropolis. Dennoch ist der Baum längst nicht so alt wie manche Kiefern, Oliven- oder Mammutbäume in kühleren und trockeneren Klimazonen, die jahrtausendealt werden können. Im Regenwald mit seinen gefräßigen Pilzen und Insekten werden nur wenige Kapokbäume älter als ein paar Jahrhunderte. Dieses Exemplar schätzen Ökologen auf 150 bis 250 Jahre. Der Baum ist nicht aufgrund seines Alters so groß, sondern weil junge Kapokbäume pro Jahr zwei Meter wachsen, worunter die Holzdichte und die chemische Abwehrkraft allerdings leiden.
In der Kapokbaumkrone wird das pflanzliche Trommeln von Tiergeräuschen überlagert
Die Kapokbaumkrone erhebt sich wie eine Kuppel über ihren 40 Meter und damit mindestens zehn Gebäudestockwerke hohen Nachbarbäumen, die sie noch um weitere zehn Meter überragt. Wenn ich auf meinem Hochsitz im Kapokbaum sitze, breitet sich unter mir ein Kronendach aus, das mit den gleichmäßigen Wipfeln gemäßigter Wälder wenig gemein hat. Ich zähle bis zum Horizont ungefähr zehn Kapokbäume, die wie Hügelkuppen aus einer unregelmäßigen, zerklüfteten Landschaft ragen.
Der Kapokbaum ist ein Baumriese. Auch eine Weltachse? Axis mundi? Vielleicht. Doch das Rauschen des Regens führt jeden Gedanken ad absurdum, den Baum von seiner Gemeinschaft zu trennen. Die Regentropfen prallen auf Blättertrommeln: Der botanische Reichtum wird vom Regentrommler vertont. Jede Pflanzenart erzeugt ihren eigenen Regenklang. Im Geräusch des Regens spiegelt sich die Blättervielfalt des Kapokbaums und anderer Arten, die auf und neben ihm leben. (...)
In der Kapokbaumkrone wird das pflanzliche Trommeln von Tiergeräuschen überlagert, von Meckern, Heulen, Jaulen, Pfeifen, Kreischen, Summen oder Murmeln. Jedes akustische Verb hat hier seinen Meister gefunden, und viele Arten kommunizieren mit Lauten, für die unsere Sprache kein Wort kennt. Die flirrenden Flügel einer Schwalbennymphe dröhnen, punktiert von scharfem, peitschenähnlichem Pfeifen. Der Kolibri, ein daumengroßes Schillern in Blau und Grün, taucht seinen Schnabel in den roten Blütenbogen einer gestreiften Lanzenbromelie. Ein Frosch quakt zwischen den aufragenden fleischigen Blättern der Pflanze quak-quak-quaAK!, was umgehend von einem Dutzend weiterer Frösche beantwortet wird, die sich im Bromeliendickicht der Kapokbaumäste verstecken. Anders als Träufelblätter können die aufrechten Blattrosetten der Bromelien das aufgefangene Wasser festhalten. In dem Trichter zwischen den Blattansätzen kann eine Bromelie vier Liter Wasser sammeln: ein hervorragender Laichplatz für Frösche und Hunderte andere Arten. Die Bromelien in den Baumwipfeln fangen auf einem Hektar Wald 50.000 Liter Wasser auf, zumeist in den Ästen der Baumriesen.
Der Kapokbaum ist ein Himmelsteich. Doch Teiche sind nicht das einzige Habitat im Kronendach. In den Ästen dieses Kapokbaums gibt es so viele Mikroklimazonen wie sonst auf Hunderten Hektar gemäßigter Wälder. In manchen Astgabeln haben sich Sümpfe gebildet und in einigen Astlöchern Feuchtgebiete, die bald wieder trockenfallen. In der Krone ist durch das herabgefallene Laub von Jahrzehnten eine Erdkrume entstanden, die genauso tief und nährstoffreich ist wie die des Waldbodens. Der Humus bleibt auf den breiten Ästen liegen oder im Gewirr der Schlingpflanzen hängen. Ein Feigenbaum, mit einem Stamm, so mächtig wie ein menschlicher Torso, wurzelt dort inmitten anderer Bäume: ein Wald, 50 Meter über dem Erdboden. Er gedeiht vor allem auf der Nord- und Ostseite des Kapokbaums, wo die Kronendach-Erde so feucht und das Blätterdach beinah so dicht ist wie in einer schattigen Schlucht.
Bei Regen schwellen die Pflanzen an, um unter der erbarmungslosen Äquatorsonne wieder zu schrumpfen
Auf den südwestlichen Ästen der Wetterseite erduldet eine Gemeinschaft aus Kakteen, Flechten und rasiermesserscharfen Bromelien dagegen ein Wechselbad aus Wolkenbruch und Wüste: Bei Regen schwellen die Pflanzen an, um unter der erbarmungslosen Äquatorsonne wieder zu schrumpfen. Die senkrechten Stämme der Bäume sind mit einem Geflecht aus Kletterpflanzen und Orchideengärten bedeckt, mit einer Wasser speichernden Matte, in der auch Farne wurzeln. Und über all dem sind noch die meist achtfingrigen Blätter des Kapokbaums aufgefächert, die nicht größer sind als eine Kinderhand. Sie schweben an ihren Stielen wie hauchdünne Schleier. Sie scheinen nicht zum Wesen des riesigen Baums zu passen, doch sie müssen, anders als die geschützten Pflanzen weiter unten, Stürmen und Fallböen standhalten. Bei Sturm gibt der Kapokbaum nach und klappt die kleinen Fächerblätter ein.
Die Tropen wurden bislang meist vom Boden aus erforscht. Erst seit Kurzem klettern Biologen über Türme, Strickleitern und Kräne bis in die Kronen. Und haben dabei entdeckt, dass mindestens die Hälfte aller Regenwaldpflanzen ausschließlich im Kronendach wächst. (...)
Wie jemand, der in Platos Höhle zurückkehrt, bin ich bei meiner Rückkehr in die vertraute Welt nicht mehr derselbe. Ich weiß nun, dass weit über mir unvergleichlich schöne, komplexe biologische Welten liegen. Ich bewege mich in der Ebene, doch durch meinen Kopf und über den Boden, auf dem ich gehe, flirren das Echo und die Schatten der oberen Welt.
Titelbild: Klaus Schönitzer, 2008/Wikipedia/Creative Commons