Was passiert?
Der 9. Mai 2017 ist ein sonniger, aber kalter Frühlingstag in Berlin. Die ersten Menschen kommen schon morgens ans Sowjetische Ehrenmal im Treptower Park, einer ehrfurchtgebietenden Riesenanlage im realsozialistischen Baustil, Gedenkstätte und Soldatenfriedhof zugleich. Es ist der „Tag des Sieges“, des Sieges über Hitlerdeutschland. Tausende Menschen werden es im Laufe des Tages, sie bringen Nelken mit, Fahnen, Fotos von toten Soldaten und filmen alles mit ihren Handys. Es sind Berliner Exilrussen, deutsche Antiimperialisten und Verschwörungstheoretiker, Angehörige, Familien, Schaulustige. Und auch ein paar Dutzend „Nachtwölfe“ sind aus Russland angereist, vom nationalistisch-orthodoxen Motorradclub, der schon mehrfach Schlagzeilen als „Putins Rocker“ gemacht hat. Sergei Losnitza hat den Tag am Ehrenmal mit der Kamera begleitet.
Was zeigt uns das?
„Geschichte hat keine Eigner“, so hat ein RBB-Journalist 2015 das Treiben am Sowjetischen Ehrenmal kommentiert. Und tatsächlich finden hier ganz verschiedene Feierlichkeiten statt. Für manche ist es eine Erinnerung an die Toten, für andere Freude über den Sieg über den Faschismus, wieder andere feiern ein russisches Volksfest oder machen einen Familienausflug, und für einige ist es eben eine Party für einen Staat, den es nicht mehr gibt: die Sowjetunion, an die mit vielen Hammer-und-Sichel-Fahnen erinnert wird.
Wie wird’s erzählt?
Sergei Loznitsa, der schon Dokumentarfilme über die Besucher deutscher KZ-Gedenkstätten und die ukrainischen Maidanproteste gedreht hat, übt sich in maximaler Zurückhaltung. Stumm beobachtet die Kamera das Geschehen und nimmt Eindrücke auf, die in einer warmen, an alte Analogfotos erinnernden Farbstimmung gehalten sind. Dazu gibt es ausschließlich Originalton: Gesprächsfetzen auf Deutsch und Russisch, Reden, die Verlesung der Namen von Verstorbenen und immer wieder Lieder, von kleinen Bands gespielt oder spontan gesungen. Was Sergei Loznitsa dabei an Details und Beobachtungen eingesammelt hat, ist enorm. Nur die Dramaturgie und der Rhythmus des Gezeigten wirken mitunter etwas unentschlossen.
Beste Nebenrolle
Katjuscha – die junge Frau, die zwischen blühenden Apfelbäumen sehnsüchtig auf die Briefe ihres Liebsten von der Front wartet. Der sowjetische Schlager „Katjuscha“, geschrieben 1938, wurde im Zweiten Weltkrieg als Soldaten- und Hoffnungslied enorm populär und ist es bis heute. Im Film wird er allein dreimal angestimmt.
Taschentuchmoment
Immer wenn gesungen wird. Es sind fröhliche und traurige russische Lieder, von der Heimat und der Natur, vom Fluss Don, vom Krieg und von Liebenden. In den Feierlichkeiten am Ehrenmal mischt sich grimmig-traurige Ernsthaftigkeit mit ausgelassener Freude, was aber ganz natürlich wirkt.
Gut zu wissen
Viele der Anwesenden tragen schwarz-orange gestreifte Schleifen. Es ist das Sankt-Georgs-Band, das schon zur Zarenzeit mutigen Soldaten verliehen wurde. Ein Symbol bei den Gedenkfeiern wurde es allerdings erst 2005 auf Initiative der Putin-Regierung, die den 9. Mai in den vergangenen rund zehn Jahren mit nationalistischer Bedeutung aufgeladen hat. Das Band gilt mittlerweile als ein politisch bedeutsames russisches Staatssymbol, das aber in vielen postsowjetischen Staaten nur ungern gesehen wird. So wurde es unter anderem von den prorussischen Kräften in der Ostukraine getragen – und ist in der Ukraine seit Mai 2017 sogar verboten.
Auch gut zu wissen
War die deutsche Kapitulation im Zweiten Weltkrieg nicht eigentlich am 8. Mai? Richtig – doch so spät am Abend, dass nach Moskauer Zeit schon der nächste Tag begonnen hatte. Deswegen feiert man in Russland am 9. und nicht am 8. Mai.
Ideal für …
… alle die Russland mögen, allein wegen der Lieder. Aber auch für alle, die einen Sinn für den Umgang mit Geschichte, für etwas skurrile Veranstaltungen oder für präzise Beobachtungen haben.
„Den’ Pobedy“ („Victory Day“), Deutschland 2018; Regie, Drehbuch: Sergei Loznitsa; 94 Minuten