fluter: In Deutschland wird der Gentechnik mit sehr großer Skepsis begegnet. Woran liegt das?

Christiane Woopen: Genforschung wird von vielen als Eingriff in die Natur angesehen. Zum Teil liegt es auch an historischen Erfahrungen. Der Rassenwahn im Nationalsozialismus schürt bis heute Vorbehalte. Und es geht auch darum, dass Gene als das Programm des Lebens angesehen werden. Eine Veränderung der Gene bedeutet dann eine Programmierung des betroffenen Lebewesens. Wer dort eingreift, mischt sich in die Schöpfung ein und spielt Gott.

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Gesichtscollage  (Bild: Michael Mapes)

Warum so skeptisch? Weil Genforschung von vielen als Eingriff in die Natur gesehen wird

(Bild: Michael Mapes)

Es gibt auch viele nichtreligiöse Menschen, die Eingriffe ins Erbgut von Pflanzen und Menschen kritisch sehen.

In der deutschen Mentalität spielen Folgeabschätzungen eine große Rolle. Wenn man nicht genau weiß, was passieren wird, neigt man eher zur Zurückhaltung. Das ist etwa bei gentechnisch veränderten Pflanzen der Fall. Wenn die Risiken unkalkulierbar erscheinen, lehnt man sie lieber ab.

Die Entwicklung in den Laboren ist zum Teil atemberaubend. Sind viele Menschen angesichts der Möglichkeiten der Gentechnik überfordert?

Freiheit ist immer Segen und Fluch zugleich. Wir wollen alle frei sein, aber das heißt auch, Verantwortung zu übernehmen. Und das wird in der Tat oft als Überforderung wahrgenommen. „Ach, hätten wir doch all diese Techniken nicht.“ So einen Satz hört man etwa von Kritikern über die vorgeburtliche Gen- Diagnostik. Man möchte also lieber etwas als Schicksal annehmen, anstatt selbst schwierige, konfliktbehaftete Fragen beantworten zu müssen.

Wie verändert sich unser Verhältnis zum Leben, wenn wir Pflanzen, Tiere und Menschen nach unseren Wünschen gestalten können?

Da stellt sich ganz fundamental die Frage, inwieweit wir in natürliche evolutionäre Prozesse eingreifen möchten. Es ist ein ethisch relevanter Unterschied, ob ich eine Krankheit vermeide oder ob ich jemanden mit gewünschten Eigenschaften versehe. Eingriffe am Embryo sind immer Eingriffe an einem anderen Menschen. Wenn es um schwere Krankheiten geht, die sich vermeiden lassen, würde man wahrscheinlich zu dem Schluss kommen, dass der Mensch später schon damit einverstanden sein wird. Anders ist es mit vermeintlichen Optimierungen. Wie ich meinen eigenen Körper gestalten möchte, ist meine Entscheidung. Ich kann es aber nicht für jemand anderen entscheiden.

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Die Gentechnik eröffnet viele Möglichkeiten. Die werfen schwierige Entscheidungen auf. Und davon fühlen sich viele Menschen überfordert

(Bild: Michael Mapes)

Ist es ethisch verantwortbar, wenn Kindern irgendwann mal eine besondere Augenfarbe oder ein besonderes Talent mit auf den Weg gegeben wird?

Nein, aber man darf Gene auch nicht überbewerten, weil sie eben kein Programm des Lebens sind, sondern nur Teil eines komplexen organismischen Systems, das auch in Wechselwirkung mit der Umgebung steht. Man tauscht ja nicht einfach ein Gen aus und hat dann einen genialen Musiker. Zudem weiß man bei vielen Eingriffen gar nicht, ob die Risiken nicht viel größer sind als der Nutzen. Man hat bei Versuchen an Embryos in China gesehen, dass die Methoden sehr unsicher sind und es viele Mutationen gab, und zwar an ganz anderen Stellen als dort, wo die Eingriffe stattfanden.

In Zukunft könnte es dazu kommen, dass jemand, der eine genetische Veranlagung zu bestimmten Krankheiten hat, mehr in die Krankenkasse zahlen muss. Ist das gerecht?

Ich sehe da die Gefahr einer Entsolidarisierung der Gesellschaft. Wir sollten gemeinsam dafür einstehen, dass alle eine gute Gesundheitsversorgung bekommen, und zwar unabhängig von den biologischen Ausgangsbedingungen. Unser solidarisches Gesundheitssystem, in dem letztlich die Gesunden die Kranken und die Reicheren die Ärmeren unterstützen, halte ich für eine wichtige soziale Errungenschaft.

„Wie ich meinen Körper gestalten möchte, ist meine Entscheidung. Ich kann es aber nicht für jemand anderen entscheiden“

Es gibt aber bereits Versicherungen, die sehr individuelle Tarife haben. Wenn ich etwa jung und unerfahren bin, zahle ich eben mehr für die Autoversicherung.

Beim Autofahren würde ich das anders bewerten als bei der Gesundheit. Wenn wir da verhaltensbasierte Tarife zulassen, die darauf beruhen, dass man ständig Daten etwa über sein Fitnessarmband an die Versicherung weitergibt, sehe ich drei Gruppen von Verlierern zum einen die, die ihre Daten aus Gründen der Privatheit nicht freigeben wollen. Dann diejenigen, die die vorgegebenen Ziele nicht erfüllen können, zum Beispiel Menschen mit Behinderungen, die keine 10.000 Schritte am Tag gehen können. Oder alleinerziehende Mütter, die versuchen, ihre Kinder durchzubringen, und keine Zeit für ein Fitnessprogramm haben. Das sind aber genau die Menschen, mit denen unsere Gesellschaft Solidarität zeigen sollte, die wir unterstützen müssen, anstatt sie von Bonusprogrammen auszuschließen. Und die dritte Gruppe besteht aus Menschen, die diese Anforderungen erfüllen könnten, aber nicht wollen, weil sie andere Vorstellungen von einem gesunden und gelingenden Leben haben. Die möchten eben nicht 10.000 Schritte am Tag gehen, aber die helfen in einem Flüchtlingsheim und leisten einen Beitrag zur Gesundheit anderer. Warum sollen die dann keinen Vorteil in der Krankenversicherung bekommen?

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Ist es nicht ein relevanter Unterschied, ob ich eine Krankheit vermeiden oder ob ich jemanden mit gewünschten Eigenschaften versehen will?

(Bild: Michael Mapes)

Das Sammeln von menschlichen Daten ist ja auch in anderen Bereichen sehr relevant. Man kann sich vorstellen, dass Strafverfolgungsbehörden schon gern wüssten, wer eine Neigung zur Aggressivität hat.

Ich finde es hochgefährlich, wenn solche Vorhersagen aufgrund biologischer Daten gemacht werden. Statistisch kann das vielleicht zu interessanten Zusammenhängen führen, nicht aber zu einer Vorhersage im Einzelfall. Selbst wenn man sagen könnte, dass 70 Prozent der Menschen, die ein bestimmtes genetisches Profil haben, im Laufe von zehn Jahren eine Straftat begehen, kann ich das immer noch nicht auf den Einzelnen beziehen.

Das Beispiel großer IT-Konzerne zeigt, dass die Gesetzgebung oft hinter neuen Entwicklungen herhinkt. Wenn man derzeit sieht, wie Google oder Facebook mit persönlichen Daten umgeht, fragt man sich, was das für Informationen über das Genom bedeuten könnte.

Das ist richtig. Die internationale Gesetzgebung ist eher ein mittel- bis langfristiges Unterfangen. Wir haben aber immerhin die europäische Datenschutz- Grundverordnung, nach der sich auch ausländische Konzerne richten müssen, wenn der Kunde in Europa sitzt. Das ist ja schon mal ein Fortschritt. Aber damit ist natürlich die wahre globale Dimension der Datenströme noch nicht erfasst.

„Bei tödlichen Erkrankungen nehmen manche Menschen nach einer ausführlichen Beratung Abstand von der Diagnostik und wollen lieber nicht wissen, ob sie das betreffende Gen tragen“

Eben noch bestaunen wir die Datensammelwut großer Konzerne, nun bekommt man mit der Gentechnologie die Möglichkeit, den Menschen noch gläserner zu machen.

Die zentrale Frage ist die nach dem Eigentum an den Daten. Momentan bezahlt man ja im Internet mit seinen Daten und bekommt dafür kostenlose Anwendungen. Wir wissen aber auch aus Studien, dass viele Menschen lieber mit Geld als mit Daten bezahlen würden. Wenn Unternehmen die Daten nutzen und weiterverkaufen, dann sollte derjenige, der die Daten hergibt, vielleicht auch Geld dafür bekommen, oder das Unternehmen zahlt einen anteiligen finanziellen Beitrag zum Gemeinwohl.

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Gläserne Aussichten: Und nicht zuletzt ist da noch die berechtigte Sorge, als Mensch in Zukunft noch durchschaubarer zu werden

(Bild: Michael Mapes)

Wird genügend darüber aufgeklärt, was es heißt, das Genom aufschlüsseln zu lassen?

Nein. Darüber sollte man schon in den Schulen sprechen. Der Deutsche Ethikrat hat zudem für ein staatlich gefördertes Internetangebot plädiert, das darüber aufklärt, welche Aussagekraft genetische Tests haben und welche Risiken damit verbunden sein können. Das ist von der Politik leider noch nicht aufgegriffen worden. Wenn man seinen Speichel ohne ärztliche Beratung irgendwohin schickt, um sein Genom untersuchen zu lassen, sollte man sich auch im Klaren darüber sein, dass die Aussagekraft dieser Tests begrenzt und die Ergebnisse in ihrer Bedeutung oft unklar sind.

Oder etwas herauskommen könnte, das man vielleicht gar nicht wissen will …

christiane woopen

Christiane Woopen  (Foto: picture alliance / dpa)

Christiane Woopen ist Professorin
für Ethik und Theorie der Medizin
an der Universität zu Köln. Sie war
von 2001 bis April 2016 Mitglied
des Deutschen Ethikrates, von
2012 bis 2016 dessen Vorsitzende.
Von 2014 bis 2016 war sie zudem
Präsidentin des Global Summit of
National Ethics/Bioethics
Committees

(Foto: picture alliance / dpa)

Ja, etwa ein hohes Risiko, an einer Demenz zu erkranken. Das kann dann einen erheblichen Einfluss auf die Lebensqualität haben. Deswegen ist es wichtig, dass eine solche Diagnostik unter ärztlicher Beratung erfolgt. Was macht das mit einem Menschen, wenn er etwa erfährt, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Darmkrebs entwickelt oder mit Sicherheit die tödlich verlaufende Erbkrankheit Chorea Huntington

Wie gehen die Menschen mit einer solchen Diagnose um?

Bei tödlich verlaufenden und unbehandelbaren Erkrankungen nehmen manche Menschen nach einem ausführlichen Beratungsprozess Abstand von der Diagnostik und wollen lieber nicht wissen, ob sie das betreffende Gen tragen. Erstaunlich ist, dass viele von denen, bei denen die Untersuchung zeigt, dass sie den Gendefekt von ihren Eltern nicht geerbt haben, nicht einfach nur glücklich darüber sind. Manche haben Schuldgefühle ihren betroffenen Verwandten gegenüber. Man nennt das „Survivor-Guilt“ – ein Überlebensschuld- Syndrom, obwohl es mit Schuld im eigentlichen Sinne gar nichts zu tun hat.

Ist eine Institution wie der Ethikrat stark genug, um die Politik zu beeinflussen?

Der Ethikrat hat schon verschiedene Gesetze angestoßen und mitgeprägt. Zudem hat er die Aufgabe, die öffentliche Diskussion anzuregen, wie durch die Jahrestagung zur Gen-Schere im Juni, die im Internet abrufbar ist. Und es gibt die internationale Zusammenarbeit: Im März durfte der Ethikrat das Weltgipfeltreffen der Ethikräte in Berlin ausrichten. Dort ging es unter anderem um Genom-Editing und Big Data.

Statt gewöhnlicher Rahmen nutzt der Künstler Michael Mapes für seine Porträts Setzkästen, wie Biologen sie für ihre Präparate benutzen. Die Bilder bestehen aus kleingeschnittenen Fotos und biographischer DNA, wie Mapes sagt, also aus so ziemlich allem, was wir in unserem Alltag an Proben hinterlassen: Haare, Fingernägel, Taschentücher, Krümel... Die Ästhetik passt – Mapes seziert das Leben der Porträtierten, als wäre er ein Forensiker.