fluter.de: Die Fußballweltmeisterschaft steht an. Russlands Staatschef Wladimir Putin sagt: „Jeder Fan wird unsere traditionelle Offenheit und Gastfreundschaft kennenlernen“. Was glauben Sie?
Stefan Melle: Ich vermute: ja, die meisten. Zum Teil eine Gastfreundschaft, die offiziell organisiert ist. Aber natürlich auch eine, die von den Leuten selbst ausgeht. Die WM ist etwas, worauf viele Leute lange gewartet haben, auch wenn der Staat natürlich kräftig nachgeholfen hat. Wir erleben, wie mit ungeheurem Aufwand die Stadien und Innenstädte hergerichtet werden und der Sicherheitsapparat seit einem Jahr darauf eingerichtet wird, dass möglichst gar nichts passieren darf.
Was für Maßnahmen folgen daraus?
Man hat das schon beim Confed-Cup voriges Jahr gesehen: Da waren sämtliche öffentlichen Aktionen – ich rede nicht einmal von Demonstrationen – untersagt, die nicht mit dem Inlandsgeheimdienst FSB vorher abgestimmt worden waren. Es wird der öffentliche Raum gesäubert und dazu gibt es nicht zuletzt repressive Maßnahmen, teils um gegen gewalttätige, rechtsextreme Fans gewisser Clubs oder der Gefahr von Terroranschlägen vorzubeugen. Allerdings wird der Kampf auch genutzt, um Andersdenkende an den Rand zu drängen.
Es gibt Missstände und Korruption rund um die WM, in Sankt Petersburg sollen gar völlig entrechtete nordkoreanische Arbeiter eingesetzt worden sein. Doch Recherchen gelten als schwierig, weil russische Journalisten und NGOs gegängelt werden.
Ja, seit Jahren durch restriktive Gesetze. Dutzende Organisationen mussten sich auflösen oder wurden mit Strafen finanziell kaputt gemacht. Der ganze Sektor ist sehr nervös. Gleichzeitig gibt es Zehnttausende Leute, die den Mut nicht sinken lassen. Manche Initiativen und Vereinigungen registrieren sich nicht mehr oder tun es als Firma, dann fallen sie unter das Unternehmensrecht und sind aus bestimmten repressiven Maßnahmen raus – bis der Staat eines Tages wahrscheinlich auch da wieder nachzieht. Es gibt eine Art partisanenhafte Überlebensfähigkeit. Der Sektor ist enorm unter Druck – aber er ist alles andere als tot, gerade auf lokaler Ebene.
Menschenrechtsverletzungen auf WM-Baustellen – erfährt der durchschnittliche Russe überhaupt von so etwas?
Die Öffentlichkeit ist in Russland ein besonders wunder Punkt, denn sie ist zweigeteilt. Wir haben eine Minderheit von vielleicht 15 bis 20 Prozent, die sich unabhängig informiert. 80 Prozent der Leute tun das aber gar nicht; sie sind entweder ganz nachrichtenabsent oder konsumieren nur das, was sie aus den staatlichen Medien und deren – erst mal nicht unbedingt als solche zu erkennenden – Unterstrukturen mitkriegen. Dass Russland ein bedrohtes Land sei, von Feinden umgeben, und sich um seinen Präsidenten scharen müsse: All das wird von einer Mehrheit geglaubt, was sich ja auch in den Wahlergebnissen zeigt.
Putin ist im März mit Dreiviertelmehrheit als Präsident bestätigt worden.
Nach 18 Jahren Verengung des öffentlichen Raums auf einen Mann und eine Machtgruppe sehen die Leute irgendwann keine Alternativen mehr. Und wo solche mal durchscheinen, werden sie massiv verfolgt – wie der Oppositionelle Alexei Nawalny oder andere, die teils schon Jahre vorher mit politisch motivierten Gerichtsverfahren ausgehebelt wurden. Das geht bis zur Sippenhaft: Alexeis Bruder Oleg Nawalny wurde 2014 auch ins Gefängnis gebracht, wo er immer noch sitzt. Leute werden mit erfundenen Verdächtigungen mundtot gemacht, verlieren ihre Bürgerrechte und ihre Möglichkeiten, öffentlich zu agieren.
Kurz vor dem Confed-Cup wurde Nawalny bei einer Demonstration verhaftet und für die Dauer des Turniers aus dem Verkehr gezogen. Wird er sich während der WM Gehör verschaffen können?
Viele, die sich als oppositionell und demokratisch verstehen, werden wohl versuchen, etwas zu machen. Aber für Demonstrationen wird es sicher keine Genehmigungen geben, außer vielleicht in abgelegenen Gebieten.
Die Spiele von Sotschi waren mit geschätzt 40 Milliarden Euro die teuersten aller Zeiten. Auch beim Fußball wird die höchste Rechnung der WM-Geschichte erwartet. Putin gilt als Sportfan, aber das ist wohl nicht das einzige Motiv, solchen Aufwand zu betreiben?
Solche Veranstaltungen werden auch immer genutzt, um in Gesellschaft, Wirtschaft und Infrastruktur zu investieren – leider aber fast nie systematisch. Was Sotschi betrifft, hat Putin wohl auch persönlich immer darunter gelitten, dass die vermögenden Russen in die Alpen fahren, um dort Wintersport zu machen. Er sagte sich: Wir haben doch auch schöne Berge. Da wird also auch ein bisschen ein Minderwertigkeitskomplex abgearbeitet.
Und als weiterer Effekt kann dann die Kontrolle der Opposition verschärft werden?
Russlands liberaler Gesellschaftsteil ist nervös, weil man weiß, dass die WM auch für die russische Führung ein heikler Moment ist. Es gibt auch die Befürchtung, dass nach dem Ende der WM, wenn alle – hoffentlich – eine gute Zeit hatten und die Gäste wieder abgereist sind, die Daumenschrauben erst richtig angezogen werden. Alles in allem herrscht ein Zustand der Unsicherheit, der wohl bewusst herbeigeführt wird, um all die anderen Dinge zu überdecken: Korruption, Bereicherung, Demokratiedefizit etc.
Wird die WM auch außenpolitisch ein Vorher und Nachher markieren? 2014 beschloss Putin am Schlusstag der Olympischen Winterspiele die Annexion der Krim.
Die Frage ist auch, ob es wieder einen Anlass geben wird, von dem der russische Präsident sich herausgefordert fühlt. Putin wollte mit Sotschi drei Ziele erreichen: Erstens, das Land und sich selbst als erfolgreiche Großmacht zu zeigen. Zweitens, wie erwähnt, die Infrastruktur für Wintersport im eigenen Land zu schaffen. Drittens, die russische olympische Geschichte zu revitalisieren, die seit dem Ende der Sowjetunion weniger erfolgreich war und immer noch unter dem Trauma von 1980 litt, dem Boykott der Sommerspiele von Moskau durch viele Länder des Westens. Und so sitzt er im Februar 2014 also in Sotschi – und plötzlich schwimmen ihm in der Ukraine die Felle weg (durch die Maidan-Proteste, Amn. d. Red.). Er merkt, er kann das Land nicht mehr halten, die Mehrheit der Ukrainer will nicht mehr unter russischem Einfluss stehen, trotz vieler Milliarden Dollar, die Putin noch Ende 2013 als Kredit angeboten hat. Diese Situation hat stark zu dem Krim-Entschluss beigetragen, das waren nicht nur langfristige Pläne, sondern auch eine hochemotionale, kurzfristige Reaktion.
Nun gibt es aktuelle Themen, etwa die die Affäre um den vergifteten Agenten Sergej Skripal, der Krieg in Syrien …
Oder Armenien. Das ist auch etwas, das ihm überhaupt nicht gefallen kann: Leute auf der Straße haben erreicht, dass sich jemand nicht dauerhaft an der Macht halten kann. Das wird auch in Russland genau beobachtet – zumal der gestürzte Ministerpräsident Sargsjan für eine starke Bindung an Russland stand, gegen den Willen vieler Menschen im Land.
Wie sollte sich das Ausland im Hinblick auf die WM verhalten? Und wie die Menschen, die nach Russland zu den Spielen fahren?
Man sollte aufmerksam sein und nichts beschönigen. Es geht nicht um eine reine Sportveranstaltung, sondern um ein von einem autoritären, teils erheblich repressiven Staat organisiertes Event, bei dem nur geschehen soll, was der offiziellen Linie zuträglich ist. Gleichzeitig sollte man es aber auch als Sportereignis geschehen lassen und froh sein, dass es so stattfindet. Die Leute in Russland brauchen internationale Begegnungen, zumal der Staat zunehmend auf Selbstisolation setzt und etwa seinen Bediensteten die Reisen ins Ausland erschwert. Die WM ist also auch eine Chance.
Stefan Melle, geboren 1970, ist Geschäftsführer des Vereins Deutsch-Russischer Austausch (austausch.org).
Fotos: Denis Sinyakov