Da ist Oussama. Oussama hat eine Ausbildung zum Krankenpfleger gemacht und führt mit seiner griechischstämmigen Geschäftspartnerin heute eine Firma, die Pflegepersonal vermittelt. Da ist Moussa. Moussa verkauft Potenzmittel, Viagra – meistens in Moscheen. Zu seinem Kundenstamm gehören die, die Keuschheit predigen und Homosexualität vor ihrer Gemeinde manchmal als „Krankheit“ bezeichnen: Imame. Da ist Mustafa. Als Kind bemalte er sich seinen Mund mit dem Lippenstift seiner Mutter – und bekam regelmäßig Schläge, wenn er in ihre Schuhe schlüpfte. Mittlerweile hat er zwei Ausbildungen absolviert, studiert BWL und spricht mehrere Sprachen: Deutsch, Türkisch, Arabisch, Kurdisch und Englisch. Er will in einen großen Kosmetikkonzern einsteigen und ein schönes Leben in Südfrankreich führen.
Da sind noch Aktürk, Ali, Mikhail, Hamza und Aziz. Allesamt „Muslim Men“, die die Autorin Sineb El Masrar getroffen hat, um mit ihnen über ihre Identität, Frauen, ihren Glauben, ihre Familien zu sprechen – und über Vorurteile, denen sie ausgesetzt sind. Seit den islamistischen Terrorakten am 11. September 2001 in New York oder vor drei Jahren in Paris meinen manche, in jedem Muslim einen potenziellen Terroristen zu erkennen. Rechtsextreme Medien schüren diese Angst, sie schreiben längst den Untergang Deutschlands herbei. Und Pegida? Steht für „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“.
Was soll man gegen solche Parolen tun? Sineb hat sich für das Schreiben entschieden, „Muslim Men“ ist ihr drittes Buch. Ihr erstes hieß „Muslim Girls“ und hat Aufsehen erregt, weil sie dafür losgezogen ist, um die Menschen hinter den Schlagzeilen und dem Geschrei zu treffen. Darin zeigte Sie, dass die „Kopftuchmädchen“, wie sie sogar von Politikern zuweilen herabwürdigend genannt werden, alles mögliche sind: Kabarettistinnen, Moderatorinnen, Geschäftsfrauen und Schauspielerinnen – und eben nicht alle gleich. „Nur Leute, die tatsächlichen Kontakt zu Muslimen haben, wissen, dass Muslime nicht so oder so sind“, sagt Sineb. „Und nur weil jemand muslimisch ist, heißt das nicht, er oder sie wird unterdrückt.“
Es ist aber nicht so, dass Sineb die Probleme in muslimischen Familien ausblendet. Dort sei der Vater oft die ewige Autorität, die nicht infrage gestellt werde und deren Regeln befolgt würden. „Du wusstest, zu Hause ist Papa Hitler. Was er sagt, wird gemacht. Fertig!“ So hat es ihr Oussama erzählt, auch viele andere berichteten ihr von der Macht der Väter. „Das Patriarchat“, sagt Sineb, „wird von Generation zu Generation weitergetragen.“ Besonders dem Wunsch der Töchter nach Selbstbestimmung werde selten nachgegeben.
Sie selbst, meint Sineb, habe Glück gehabt. Ihre Eltern, die aus Marokko nach Niedersachsen kamen, ließen sie alles fragen. Ihre Mutter riet ihr sogar, bloß nicht zu früh zu heiraten. Beide Eltern wollten einen anderen Weg für ihre Tochter als viele islamische Familien – einen mit Bildung, Erkenntnis und Freiheit. Dieser Respekt vor ihren Vorstellungen hat Sineb gelehrt, anderen im selben Maß mit Respekt zu begegnen, anstatt in Klischees und Stereotypen zu denken.
Vierundzwanzig war sie, als sie „Gazelle“ gründete, ein Magazin, das sich nicht nur an „deutsch-deutsche Frauen“ richten sollte, wie Sineb Frauen ohne Migra- tionshintergrund nennt – sondern an alle Frauen, die in Deutschland leben. Mit 28 schrieb sie dann „Muslim Girls“, das auch von Mädchen handelt, die sich mit Kopftuch ziemlich wohlfühlen.
Klar, dass sie sich im aufgeheizten Klima, in dem von „Überfremdung“ und „Islamisierung“ die Rede ist, Feinde gemacht hat. Auf beiden Seiten übrigens. Islamkritiker werfen ihr vor, den radikalen Islam zu verharmlosen, für manche Mitglieder strenggläubiger islamischer Gemeinden sind ihre Ansichten ketzerisch. Als sie 2016 aus ihrem zweiten Buch, „Emanzipation im Islam“, las, erhielt sie Polizeischutz – weil sie die muslimischen Verbände in Deutschland kritisiert hatte, die viele als Hindernis für Integration sehen. Nur: Wie soll die gelingen? Nichts, so sagt Sineb, werde besser, solange die Traditionen von Familie und Religion nicht hinterfragt würden – und sexuelles Begehren als Sünde gelte. Im Zuge der Emanzipation müsse sich darum das Männlichkeitsbild verändern, dringend und vor allem: kulturübergreifend. Denn Männer, die Frauen diskriminieren, seien kein rein muslimisches Problem, ebenso wenig wie frustrierte Männer, die ihren Frust mit Gewalt kompensieren. Auch deutschen Männern falle es schwer, Schwäche zu zeigen. „Nur mal angenommen, deine Identität ist nicht ordentlich ausgebildet. Oder du brauchst Halt, eine Aufgabe. Und dann steht da im falschen Moment der Falsche, ein Rattenfänger ...“ Sineb schüttelt ihre rechte Hand, als hätte sie sich verbrannt. Brenzlig, so was. „Vielen ist der Islamismus eine Ersatzfamilie.“
Ihre Bücher handeln vom Respekt und davon, wie man Scheinheiligkeit entlarvt – in einem Milieu, das weniger eindeutig ist, als Islamisten und Rassisten es wahrhaben möchten. Mustafa, der als Junge den Lippenstift seiner Mutter benutzt hat, führt bis heute ein Doppelleben. Seit elf Jahren ist er Sexarbeiter. Als Transe, wie er sich selbst bezeichnet, und viele seiner Kunden sind Imame. Manche kehren gerade aus Mekka zurück. „Wenn das Licht aus ist, wenn diese Prediger von der Bühne gehen“, sagt Sineb, „dann leben sie all das aus, wofür sie andere verurteilen.“ Und Verurteilen sei das Letzte, was man gebrauchen könne, wenn man sich eine diskriminierungsfreie Gesellschaft wünsche.
Das gelte genauso für die, die es besonders gut mit Migranten meinen und gleich wieder die nächsten Regeln aufstellen. Menschen, die schon die Frage „Woher kommst du eigentlich?“ für bedenklich oder rassistisch halten. Die Frage sei vielleicht als Eisbrecher keine gute Idee und nicht sonderlich originell, meint Sineb. Wenn man aber als Reaktion auf sie aus der Fassung gerate und an die Decke gehe – da frage sie sich dann schon: „Was ist denn eigentlich bei dem los?“