Es war wieder einer dieser Morgen, an denen Leila kaum etwas anderes tun konnte als weinen. Sie saß auf dem Sofa, die beiden Kinder spielten vor ihr auf dem nackten Fliesenboden. Ihr Mann war ein paar Tage zuvor mit seinem Lastwagen in den Westen aufgebrochen, die Ladefläche voller Wassermelonen. Ihre Mutter war bei Verwandten in der Nähe von Ankara. Sie war mit ihrer Trauer alleine zurückgeblieben. Sie tat das Einzige, was ihr an solchen Tagen half. Legte sich das beige Tuch eng um den Kopf, schlüpfte in den knöchellangen grauen Mantel, hob die einjährige Tochter und den dreijährigen Sohn in den Kinderwagen und lief hinaus. Vorbei an den unverputzten Häusern der Neustadt, hinein in die engen, gepflasterten Altstadtgassen. Zu ihrem alten Haus, das sie vor einem Jahr von einem Tag auf den anderen verlassen hatte, ohne all ihr Hab und Gut. Wegen des Konfliktes.
Wenn sie davorstand, die Hände ausstreckte und die weiß verputzte Fassade berührte, ging es ihr immer sofort besser. Die Einschusslöcher ignorierte sie. Sie stellte sich vor, sie würde hier wieder leben, das Leben von früher führen. Sie sehnte sich nach jenen seltenen Momenten am Vormittag, in denen das Sonnenlicht die Gasse flutete. Am meisten aber vermisste sie die Nachbarn, die Gespräche von Fenster zu Fenster, die Gerüche aus ihren Küchen, ihre Dramen, die Streitereien und die Liebeleien.
Leilah sehnt sich zurück nach dem Haus, das Emrah jetzt bewacht
Den Augenblick, in dem die Sonne in die schmale Gasse fiel, nutzte Emrah, um ein wenig zu dösen. Er lehnte sich in dem abgenutzten braunen Sessel zurück, den er mit den anderen Soldaten aus dem Wohnzimmer eines der Häuser geholt hatte. Sein Gewehr lag neben ihm auf dem Boden, so dass er es jeden Moment greifen konnte. Seine Gedanken flogen nach Hause, so würde er es später erzählen. Nach Ankara, zu dem glücklichen Leben, das dort auf ihn wartete, zu seinen Eltern, bei denen er noch lebte, zu seinen Freunden, mit denen er sich vor wenigen Monaten an der Uni eingeschrieben hatte und von denen viele jetzt auch irgendwo in der Kurdenregion stationiert waren.
Das Gassengewirr von Diyarbakır, Leilas Zuhause, ist abgeriegelte Zone. Vom November 2015 bis zum März 2016 tobte hier ein Häuserkampf, wie in vielen kurdischen Innenstädten. Kurdische Guerillakämpfer standen türkischen Soldaten gegenüber, Barrikaden schweren Panzern. Es starben Menschen. Bis die türkischen Soldaten die Angriffe mit Bomben beendeten. Im Februar 2015 hatte es noch ausgesehen, als wäre Frieden im türkischen Kurdistan möglich. Die türkische Regierung und die PKK-Führung verhandelten über Bedingungen für die Waffenniederlegung der Guerillagruppe. Doch kurz nach den Parlamentswahlen im Juni 2015 erklärte Präsident Recep Tayyip Erdoğan den Friedensprozess offiziell für beendet.
Bei der Wahl holte die prokurdische HDP mehr als 13 Prozent der Stimmen, zum ersten Mal knackte damit eine Partei, die sich explizit für das Anliegen der Kurden einsetzt, die Zehn-Prozent-Sperrklausel, die in der Türkei für den Einzug ins Parlament gilt. Erdoğans AKP hingegen gewann erstmals seit Jahren nicht die absolute Mehrheit.
Im Juli begannen die Kämpfe. Das folgende Jahr wurde eines der tödlichsten in dem drei Jahrzehnte andauernden Konflikt: Mehr als 2.400 Menschen starben nach Angaben der unabhängigen Friedensorganisation International Crisis Group, weitere 350.000 flohen aus ihren Häusern im Südosten. Die Innenstädte vieler kurdischer Städte wurden zerstört und sind seitdem von der türkischen Armee abgesperrt, auch die von Diyarbakır.
Leila war nicht mehr sicher, auf wen sie wütender sein sollte
Als Leila an diesem Herbstvormittag den Platz zwischen Basar und Moschee erreichte, hielt sie wie immer Ausschau nach ihren Nachbarn. Sie kamen oft hierher. Der Platz, der keine 500 Meter von ihren Häusern entfernt lag und den seit Monaten gepanzerte Polizeiwagen und Hundertschaften säumten, war zum tristen Ersatz für ihre Gasse geworden, aus der sie alle zusammen überstürzt geflohen waren, nachdem im November einer von ihnen von Scharfschützen erschossen worden war – der 15-jährige Sohn einer Familie.
Schon in den Tagen davor hatte sie sich kaum aus dem Haus getraut, war nicht auf den Basar gegangen. Gewehrsalven donnerten in nur wenigen Metern Entfernung. War sie allein zu Hause gewesen, hatte sie sich mit den Kindern – ihre Tochter war da erst ein paar Wochen alt – oft im Badezimmer versteckt, das im Inneren der Wohnung lag. Dort hatte sie sich am sichersten gefühlt. Ausgerechnet in ihrer Gasse hatten junge Männer in olivfarbenen Kampfanzügen Barrikaden errichtet.
Die Jugendlichen standen der kurdischen Arbeiterpartei PKK nahe, die viele Kurden als ihre Retter ansehen und die der Rest der Welt als Terroristen betrachtet. Am Anfang der Auseinandersetzungen war Leila vor allem auf die PKK-Leute wütend gewesen. Sie hatten ihren Kampf gegen die türkische Regierung in die Stadt gebracht, die Gefahr in das Leben ihrer Familie, ihr Zuhause zum Kampfgebiet gemacht. Doch seit die Türken mit den Panzern vorgerückt waren, seit Granaten abgefeuert wurden, die auch Zivilisten getötet hatten, war Leila nicht mehr sicher, auf wen sie wütender sein sollte.
Sie hing noch diesen Gedanken nach, als an jenem Herbsttag auf dem Platz vor der Moschee ein älterer Mann mit weißem Schnauzer mit schnellen Schritten auf sie zukam. Einer ihrer Nachbarn. Als er vor ihr stand, sah sie Panik in seinen Augen. Er beugte sich zu ihr. Flüsterte. Ihre Häuser würden abgerissen. Um Luxusapartments Platz zu machen. Für türkischstämmige Flüchtlinge aus Syrien. Seine letzten Worte schluckte der Motorenlärm eines der Lastwagen, die seit Wochen Schutt aus der Altstadt schafften. Überbleibsel der Kämpfe. Reste von Häusern. Leila machte einen Schritt zurück, schüttelte den Kopf. Das konnte nicht wahr sein. Ihre ganzen Sachen waren doch noch in dem Haus, ihr ganzes Leben, ihr einziger Lichtblick war doch, dorthin zurückzukehren. Sie fragte, woher er die Information hatte. Er sagte, die anderen hätten es ihm gesagt, die Soldaten, die ihre Häuser belagerten, hätten es ihnen erzählt. Leila griff nach dem Kinderwagen und schob ihn, das Kinn nach vorne gereckt, vorbei an den gepanzerten Polizeiwagen, in Richtung ihres Hauses. Das sollten ihr diese jungen Soldaten ins Gesicht sagen. Während sie lief, fiel ihr auf, dass sie schon lange mit keinem nichtkurdischen Türken mehr als einen Satz gesprochen hatte. Sie erinnerte sich nicht mal mehr, wann das letzte Mal gewesen war.
Ausgerechnet als der Konflikt mit den Kurden erneut ausgebrochen war, berief man ihn zum Militärdienst ein
Nach nicht mal fünf Minuten lag die Gasse wieder im Schatten. Emrah nahm seine Waffe und postierte sich vor den Sandsäcken, die den am heftigsten umkämpften Teil der Altstadt begrenzten. Ausgerechnet als der Konflikt mit den Kurden erneut ausgebrochen war, war er zum Militärdienst einberufen worden, ausgerechnet ins Kurdengebiet. Da war er gerade 21 geworden, hatte in seiner Heimatstadt Ankara begonnen, Maschinenbau zu studieren. Der Krieg war ihm erspart geblieben. Aber jeden Moment musste er mit einem Anschlag rechnen.
Nach dem Putschversuch Mitte Juli 2016 und im Zuge des Ausnahmezustands erhöhte die Regierung auch in der Kurdenregion auf politischer und sozialer Ebene den Druck. Mehrere tausend kurdische Lehrer wurden wegen angeblicher PKK-Kontakte suspendiert und durch Hochschulabsolventen aus der westlichen Türkei ersetzt. Ende Oktober wurden aus demselben Grund die beiden Bürgermeister von Diyarbakır festgenommen; weiterhin auch mehr als 20 andere kurdische Lokalpolitiker. In den Wochen davor waren schon 27 Bürgermeister in anderen kurdischen Städten festgenommen und 43 vom Dienst suspendiert worden. Türkische Regierungstreue ersetzten die kurdischen Politiker. Es herrschte eine faktische Nachrichtensperre. Gleichzeitig hatte die PKK wieder mehr Anschläge auf Polizisten und Soldaten verübt, bei denen ebenfalls viele Zivilisten getötet oder verletzt wurden.
Als Emrah sich gerade vor den Sandsäcken in Position gebracht hatte, kam wieder die blasse Frau mit dem langen Mantel und dem Kopftuch und den beiden Kindern in dem schmutzigen Wagen. Er streckte den Rücken noch ein wenig mehr durch. Er würde sie wieder kontrollieren, sie würde wieder mit dünner Stimme fragen, wann sie zurück in ihr Haus könne. Doch diesmal würde er keine ausweichende Antwort geben. Diesmal hatte er Gewissheit. Das Haus und die ganze Gegend würden endlich auch abgerissen, wie der Rest der Altstadt.
Da stand schon wieder der Junge, der so oft in dem Sessel lümmelte, der im Wohnzimmer ihrer Nachbarin gestanden hatte. Der ihren Ausweis jedes Mal kontrollierte, als sei sie eine Terroristin, der immer sagte: „Sie können nicht hinein, Sperrgebiet.“ Sie schob das Kinn noch ein wenig mehr nach vorn, hielt den Kinderwagen einen Meter vor ihm an. „Wann kann ich in mein Haus?“
Einen Moment dachte er darüber nach, dass er noch nie wirklich mit einem Kurden gesprochen hatte
Emrah sah an ihr vorbei. „Das Haus wird abgerissen, das ganze Viertel wird zerstört“, sagte er kühl. Er fand die Entscheidung überfällig. Die Altstadt war ein Nest der Terroristen. Alle unterstützten sie hier, hatten sie in ihre Wohnungen hineingelassen.
Leila suchte den Blick des jungen Soldaten. Sie wollte ihm sagen, dass man sie so doch nicht behandeln könnte, dass sie doch Rechte hatte. Dass ihre ganzen Sachen noch in dem Haus waren. Ihre Kleider, die Kuscheltiere ihrer Kinder. Doch er wich ihr aus. Sie merkte, dass ihr die Tränen kamen. Sie schluckte sie hinunter, sie wollte sich nicht die Blöße geben. Schnell drehte sie sich um, schob den Wagen um die Ecke, dorthin, wo er sie nicht sehen konnte.
Aus den Augenwinkeln sah Emrah, wie sie ansetzte, etwas zu sagen und wie sie dann schluckte. Bestimmt würde sie gleich weinen. Da ging sie schnell weg. Er wusste, er würde sie nie wiedersehen. Einen Moment dachte er darüber nach, dass er noch nie wirklich mit einem Kurden gesprochen hatte. Er war sicher, dass er nichts verpasste, wenn es dabei blieb.
Titelbild: Aylin Kizil/Narphotos/laif