Meine Eltern waren eigentlich ganz milde, verständige Leute. Eines Sonntags in den späten 70er-Jahren aber erlebte ich sie plötzlich wie ausgewechselt. In freudiger und grimmiger Erregung liefen sie vor dem Fernseher hin und her und rieben sich die Hände. Ich trat schüchtern hinzu und sah verständnislos, wie da irgendein grauer Mann unter tosendem Applaus in ein Mikrofon sprach. Mein Vater klatschte mir von hinten auf die Schulter und bellte begeistert: „Ha! Der Schmidt! Hör dir das an! So muss man reden können!“ Und dann antwortete diesem Schmidt ein massiger Mann mit eckiger Brille, der Helmut Kohl hieß und der im Fernsehen ebenfalls Beifall erntete, während meine Eltern nur höhnisch feixten und sich auf die Schenkel klopften.
Das war meine erste Bekanntschaft mit dem Bundestag. Mich erinnerte das an Übertragungen von Formel-1-Rennen, die für mich ähnlich langatmig waren – und plötzlich in helle Aufregung umschlugen, wenn es einmal knallte. Wenn es aber knallte, dann war plötzlich alles irrsinnig aufregend. Im Parlament, merkte ich, knallte es wesentlich häufiger. Nur prallten dort nicht rote oder blaue Rennwagen aufeinander, sondern Weltanschauungen. Fetzen flogen trotzdem – und zogen die Erwachsenen in ihren Bann. So war das früher.
„Abgeordneten reichten sich über politische Gräben hinweg Hustenbonbons zu und tuschelten gerne mal über alle Parteigrenzen hinweg. Während auf dem Podium 'scharfe Angriffe' gegen eine Person gefahren werden, spielte diese nur gelangweilt mit ihrem Smartphone“
Als ich vor ein paar Jahren in Berlin den Bundestag mal wieder besuchte, reichten sich die Abgeordneten über politische Gräben hinweg Hustenbonbons zu und tuschelten gerne mal über alle Parteigrenzen hinweg. Während auf dem Podium „scharfe Angriffe“ gegen eine Person gefahren wurden, spielte diese nur gelangweilt mit ihrem Smartphone. „Die verstehen sich da unten alle ganz gut“, sagte ich zu meinem Nebenmann, einem gegen den Schlaf kämpfenden Rentner aus Krefeld. Der schnaubte nur verächtlich.
Der verstorbene Publizist Roger Willemsen hat für sein Buch „Das Hohe Haus“ 2013 ein ganzes Jahr auf der Besuchertribüne verbracht und sagte in einem Interview: „Ein Volk ist durch diese Form von Floskelhaftigkeit schlicht nicht zu finden, sondern es wird überzeugt, dass Politik von ihm nichts weiß.“
Aber war denn früher alles besser?
Tatsächlich waren Leute wie Herbert Wehner oder Franz Josef Strauß von einem ganz anderen Kaliber. Der langjährige SPD-Fraktionschef Wehner hält mit 58 Ordnungsrufen bis heute den Rekord. Widersacher nannte er im Parlament „Übelkrähe“, „Schleimer“, „Quatschkopf“, „Ungeziefer“ oder riet ihnen, sich zu waschen. Der CSU-Chef und bayerische Ministerpräsident Strauß stand Wehner kaum in etwas nach und verglich Autonome mal mit Hitlers Propagandaminister Goebbels. Auch nannte Strauß Wehner einmal „eine unerträgliche Belastung des Parlaments und der Demokratie“.
„Heute ist es das Volk selbst, das in sozialen Netzwerken den ideologischen Bürgerkrieg probt – während die meisten Politiker zuschauen und sich händeringend fragen, was sie denn falsch gemacht haben könnten. Sofern sie ihre Haltungen nicht selbst längst in hastigen Tweets unter die Leute bringen“
Das waren Angriffe auf ganz persönlicher Ebene. Ein solcher Ton wäre heute undenkbar und wohl auch nicht wünschenswert. Schließlich ist das heroische Zeitalter profilierter Persönlichkeiten vorbei, in unseren Parlamenten sitzen sich nicht mehr ehemalige Frontkämpfer und kommunistische Dissidenten gegenüber – sondern überwiegend Anwälte, die nach 1930 geboren wurden und folglich nicht während der Zeit des Nationalsozialismus schuldig wurden (Helmut Kohl sprach von der„Gnade der späten Geburt“). Sie waren schon beruflich eher auf das Studium komplizierter Akten spezialisiert.
Auch waren die rhetorischen Gefechte damals womöglich ebenso ritualisiert, wie es heute die weitgehend geräuschlosen und geschmierten Abläufe im Parlament in der Großen Koalition sind. Da erschöpfen sich selbst weltanschauliche Gegensätze im gesitteten Austausch ermüdender Sachargumente. Es knallt nicht mehr, es amtsschimmelt vor sich hin. Das könnte man einen zivilisatorischen Fortschritt nennen, ergäben sich daraus nicht gleich drei fatale Entwicklungen.
Erstens hat sich die Debatte zum Teil aus dem Parlament in die Talkshows verlagert, wo das gleiche Trauerspiel nur vor größerem Publikum stattfindet – und zugleich haben sich die Umgangsformen der Talkshows „mit ihren Effekten und Eröffnungsgags“ (Willemsen) auch im Bundestag durchgesetzt. Zweitens finden selbst interessante Auseinandersetzungen im Bundestag nicht mehr den Weg in die Nachrichten, weil sogar das mediale Interesse an parlamentarischen Debatten zusehends erlahmt. Drittens sind es heute nicht mehr die Volksvertreter, die einander im Plenum an die Gurgel gehen. Es ist das Volk selbst, das in sozialen Netzwerken den ideologischen Bürgerkrieg probt – während die meisten Politiker zuschauen und sich händeringend fragen, was sie denn falsch gemacht haben könnten. Sofern sie ihre Haltungen nicht selbst längst in hastigen Tweets unter die Leute bringen.
Der Historiker Andreas Schulz, Experte für die Geschichte des Parlamentarismus, fordert deshalb eine Rückkehr der „Show“ ins Hohe Haus: „Es kann gar nicht anders sein, weil ein Parlament für einen ja unsichtbaren Souverän antritt.“ Deshalb müssten Debatten „möglichst artikuliert und möglichst interessant dann auch öffentlich repräsentiert“ werden. Denn eine neue Kohorte von Politikern hat begriffen, wie aus diesem strukturellen Problem Kapital zu schlagen ist. Vermisst der Souverän eine solche Spiegelung und Zuspitzung widerstreitender Meinungen in der offenen Redeschlacht, ist seine Gunst sehr leicht zu gewinnen. Denn in einem Klima der Ausgewogenheit werden alle Ausschläge ins Ätzende zwangsläufig als „erfrischend“ wahrgenommen. Dazu braucht es keine komplizierten Lösungen für komplizierte Probleme. Es genügt, sich dem Gebot gedeihlicher Einvernehmlichkeit zu widersetzen und das Ressentiment zurück auf die politische Bühne zu bringen. Es genügt, „es“ endlich „mal wieder sagen zu dürfen“.
Wenn dieses Dilemma aufzulösen ist, dann nur über die Rückkehr zur Debatte im eigentlichen Sinne
So geht Populismus, und eine Rückkehr zum polternden Gepöbel der 50er-Jahre käme solchen Populisten gerade gelegen. Wenn dieses Dilemma aufzulösen ist, dann nur über eine Rückkehr zur Debatte im eigentlichen Sinne.
In einer Debatte herrscht keineswegs nur „der zwanglose Zwang des besseren Arguments und das Motiv der kooperativen Wahrheitssuche“ – wie der Philosoph Jürgen Habermas den Diskurs definiert. Eine Debatte ist vielmehr ein Streitgespräch im Rahmen formaler Regeln. Im Boxen nennt man das einen Infight: reingehen, Uppercuts und Haken schlagen, den K.o. des Gegners suchen – dabei aber Regeln beachten. Es ist die Öffentlichkeit, die über die Zusammensetzung von Parlamenten entscheidet. Deshalb sollte ein Politiker seine Positionen auch öffentlichkeitswirksam vortragen und verteidigen können. Wer dazu nicht in der Lage ist, hat im Ring der Öffentlichkeit nichts verloren und sollte besser, was auch zum Geschäft gehört, in Hinterzimmern nach Kompromissen suchen.
Was es also braucht, ist eine neue Streitkultur – mit Betonung sowohl auf „Streit“ als auch auf „Kultur“. Es gibt keinen Grund, sachliche Argumente in Form von Verlautbarungen vorzutragen. Es gibt, im Gegenteil, eine ganze Reihe guter Gründe, sachliche Argumente mit Eleganz und Verve vorzubringen. Nur beherzter Streit kann Bürger dazu ermuntern, sprichwörtlich und buchstäblich „Partei zu ergreifen“ mit einem der Debattierenden. Ohne die Identifikation mit einem Redner und der Haltung, die sich in seiner Rede ausdrückt, können wir unsere Wahlentscheidungen auch ganz in die Hände von Algorithmen legen.
Streit mit ein bisschen Show, aber auch nach festen Regeln
Streit gehörte schon in vergangenen Jahrzehnten zum parlamentarischen Spiel. Einem Spiel nach festen Regeln und dem Vorteil, als „Show“ bisweilen intellektuell unterhaltsam zu sein. Dazu gehörte früher auch, dass die Gegner bei aller Härte der Auseinandersetzung einander mit einem gewissen sportlichen Respekt begegneten, jedenfalls in der Regel. Bei allen ideologischen oder auch persönlichen Abneigungen waren sich die Kontrahenten früherer Tage doch – weitestgehend – einig über den Wert eines guten Streits.
„Und das können wir ja wohl in diesem Staat“, schmetterte einst Herbert Wehner im Bundestag, „darüber streiten. Sonst wären wir alle zusammen, Sie und wir, verurteilt, unterzugehen!“ So war das früher. Und so ist es noch heute.
Titelbild: Fritz Engel/laif