Wenn die Sonne versinkt, geht an der Spitze des 33 Meter langen Schwertes ein Licht an. Es leuchtet über dem 85 Meter hohen Denkmal „Mutter Heimat ruft!“ auf dem Mamajew-Hügel – eine fast 8.000 Tonnen schwere Kolossalstatue, die eine Frau mit wehendem Gewand zeigt, die ein Schwert emporreckt. Erbaut im Andenken an den „Großen Vaterländischen Krieg“, wie der deutsch-sowjetische Krieg als Teil des Zweiten Weltkriegs in Russland genannt wird.
Als der Krieg begann, hatte die Industriestadt Stalingrad mehr als 400.000 Einwohner. Dazu kamen viele Russen, die vor den deutschen Soldaten aus anderen Städten geflohen waren. Aus Stalingrad durften sie nicht weg, das hatte Stalin verboten, selbst als die Stadt von der Wehrmacht besetzt wurde. Die Stadt und ihre Verteidigung sollten zum Symbol des Widerstands werden. Unter den Eingeschlossenen kam es zu Kannibalismus, die Menschen erfroren in einem besonders harten Winter bei bis zu minus 40 Grad. Der Kampf um Stalingrad kostete mindestens 700.000 Menschen das Leben, die Mehrzahl davon sowjetische Soldaten. Noch immer werden in der Stadt Knochen von Menschen gefunden, die damals starben.Damals hieß die Stadt noch Stalingrad, und dieser Name hat sich tief in das kollektive Gedächtnis der Menschheit gefressen. Im Spätsommer 1942 wurde die Stadt, die 1.000 Kilometer südlich von Moskau an der Wolga liegt, von 230.000 deutschen Soldaten und ihren Verbündeten besetzt, von denen nur wenige überlebten. Bereits im November 1942 wurde Stalingrad von der Roten Armee eingekesselt. Hitler-Deutschland erlebte eine vernichtende Niederlage, bei der auch Tausende Zivilisten ums Leben kamen, die wegen der Einkesselung nicht mehr versorgt werden konnten. Die Schlacht, die bis zum März 1943 wütete, gilt als Zäsur.
Zur Statue geht es von der Wolga steil hoch über viele Treppen, die einem den Atem nehmen. Vorbei an Denkmälern im neoklassizistischen Stil: Muskelberge, verzerrte Gesichter, Wille, Kraft aus allen Blickwinkeln. Menschen werden hier als Götter abgebildet. Durch einen Bogen mit der Aufschrift „Gedenkstätte für die Soldaten der Roten Armee, die in der Schlacht um Stalingrad im Großen Vaterländischen Krieg 1941–1945 fielen“ geht es zum „Stand des Todes“, einer Zwölf-Meter-Statue, ein muskelbepackter Held aus Granit, der mit blankem Oberkörper und einer Maschinenpistole eine Handgranate schleudert. Ein alter Mann mit einem langen Mantel und dicker Mütze sieht, dass ich stehen bleibe, um mir den Granithelden anzuschauen. Er sagt „Schukow“ und deutet auf die Statue, in der manche Marschall Georgi Schukow erkennen wollen, sowjetischer Feldherr im „Großen Vaterländischen Krieg“. Als ich „Germanski“ sage, berührt der alte Mann meine Schulter. Als wolle er schauen, ob ich wirklich echt bin.
Von dem Denkmal gehen Treppen hinauf durch eine künstliche Schlucht, an ihren steilen Wänden steinerne Reliefs mit Kriegsszenen. Aus versteckten Lautsprechern hallen Schlachtgeräusche, darunter auch Todesschreie. Der Gedenkpark ist voller Schulklassen, dazu Familien mit Kindern. Ein Junge hält einen grünen Luftballon in Form eines Panzers. Zwei Inder mit einem russischen Touristenführer sind außer mir die einzigen Nichtrussen, die ich in vier Tagen Wolgograd treffe. Viele Russen sind von weit her gekommen. Jeder sei einmal hier in seinem Leben, sagt ein 52-jähriger Mann aus Moskau. Manche nennen den Park „sozialistisches Disneyland“, für andere ist es schlicht „totalitärer Kitsch“. Ein kleines Tor führt ins Innere eines Hügels, eine Treppe geht steil hinunter in eine riesige runde Tempelhalle, die nach oben offen ist. Goldene Wände, in die Namenslisten von Gefallenen graviert sind, symphonische Musik mit einem Trauerchor, eine flackernde Fackel, Soldaten in starrer Haltung, stundenlang. Weiter über einen Wendelweg entlang der Wand rund um die Halle nach oben. Ins Freie auf einen großen Platz. Auf ihm marschieren Soldaten in grüngrauen Paradeuniformen. Im Gleichschritt lassen sie ihre Stiefel auf die Steinplatten knallen. Ihr Kommandant brüllt zu jedem Schritt.
Weiter südlich, in der Nacht. Auf der westlichen Seite der Wolga am Ende einer Allee voller Statuen wird es laut. Eine Gruppe junger Leute zündet Fackeln an, eine Anlage ballert trashige Tanzmusik mit russischen Texten in die Nacht, russischer Rap, ab und zu Metal-Rock. Man feiert ein Examen. Junge Frauen, trotz der Kälte mit Miniröcken und tiefen Ausschnitten, heben Gläser. Schreie, Jubel, Kreischen. Jungs köpfen Krimsektflaschen. Einer mit rasiertem Kopf, schwarzem Anzug und weißem Hemd schlägt einer Flasche mit einer Art Säbel den Hals ab, ein anderer ruft „Schampanski, Schampanski“.
Wodkaflaschen gehen rum. Einer der Jungs schmeißt eine leere Flasche gegen eine Mauer, ein paar lachen herüber und winken. Dann kommen zwei mit Flaschen zu mir herüber. Sie sagen „Party“ und „Diploma“, fragen nach meinem Namen und merken: „Germanski“. Das verändert die Stimmung. „Germanski?“ Einer lacht erschrocken, einer wird ganz ruhig. Ein anderer berührt meine Schulter wie der Mann am großen Denkmal. „Germanski?“ Jetzt kommen immer mehr hinzu. Ich beginne mich unwohl zu fühlen und gehe. Sie rufen noch etwas hinter mir her, das ich nicht verstehe. Ich steige in mein Auto und winke noch kurz. Zum ersten Mal seit ich hier bin, finde ich es seltsam, mit einem deutschen Nummernschild durch die Stadt zu fahren.
Im Zentrum Wolgograds: Ein alter Mann mit Orden auf der Brust steht an einem großen Platz. Im Kopf habe ich sofort die Rechnung: Sagen wir, er ist 80, das heißt Jahrgang 1934. Dann kann er sich noch erinnern, aber gekämpft hat er nicht. Ich werde es nicht genau erfahren, denn wir kommen nicht ins Gespräch.
Die Kellnerinnen in grünbraunen Uniformen in einem Café mit W-LAN und zuckersüßen Törtchen – ganz in der Nähe, wo früher das deutsche Oberkommando saß. Sie lachen, als ich auch am dritten Tag wiederkomme. Sie wollen jetzt etwas wissen über Deutschland, fragen in schlechtem Englisch. Sie sagen, die meisten Wolgograder seien erst nach dem Krieg hergekommen. „Wiederaufbau.“ „Wiedergeburt.“ Gedenken sei schön und gut und wichtig auch, sagt eine, aber: „Ist Vergangenheit.“ Sie macht eine lange Pause, lacht kurz, sagt: „Ja, besondere Stadt.“ Vor der Tür, mitten auf der Straße, üben junge Menschen in grünen Uniformen das Marschieren mit Fahnen. Sie seien, sagt Natalja, 16, „Naschi“ – „die Unseren“, die kremlnahe Jugendorganisation. „Wir üben für morgen“, sagt Natalja. „Gedenktag.“ Es ist einer der Feiertage, die in Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg stehen und an denen die Stadt in Stalingrad umbenannt wird.
Später gehe ich zum „Panorama-Museum Schlacht von Stalingrad“ am Wolga-Ufer. Es ist riesig, auf dem Platz davor spucken Busse Jugendliche aus. Wenige Erwachsene gehen die Reihen ab, zupfen an Uniformkragen. Einige Mädchen und Jungen lachen nervös. Ein paar machen Handyfotos vor dem Panzer, der auf dem Vorplatz steht.
Die Tore öffnen sich, die Jugendgruppen gehen im Gleichschritt hinein. Drinnen ist ein Relief namens „Die Zerschlagung der deutschen faschistischen Armee vor Stalingrad“. Alte Männer mit Dutzenden Orden an der Brust halten lange Reden. Eine Frau, die für das Museum arbeitet, sagt, heute sei ein schlechter Tag, sie etwas zu fragen. „Schauen Sie nur zu.“ Und: Das sei ein Museum für Russen, es gebe kein Material in anderer Sprache. Hier sei man „im Herzen Russlands“. Sie schaut, als würde sie sich über sich selbst wundern.
Christian Litz empfand es als besonders schlimm, dass man sich als Deutscher in Wolgograd genau so fühlt wie bei einem Besuch in einer KZ-Gedenkstätte, obwohl die Stadt ja lebhaft ist und die Leute feiern und Spaß haben.
Fotos: Karsten Schöne