Nachdem Ruth Abade ihren Job bei einer NGO verloren hatte, stellte sie kurzerhand eine billige Nähmaschine in ihrem Wohnzimmer auf und begann, Kleider, Röcke und Taschen zu produzieren. 13 Jahre später beschäftigt ihr Modelabel „Blackfly“ zehn Angestellte. Es gibt neben der Werkstatt einen Verkaufsraum und Kunden und Kundinnen in Europa sowie in den USA. Ihr Monatseinkommen? „Ich habe mir seit Jahren kein Gehalt gezahlt“, sagt die Designerin mit einem Schulterzucken.
Ruth Abade lebt in der kenianischen Hauptstadt Nairobi, wo die Klassengegensätze so groß sind wie die Wolkenkratzer im Geschäftsviertel: dort schicke Bars und Restaurants, da riesige Slums, in denen etwa zwei Drittel der Bevölkerung leben. Und dazwischen viele Menschen, die offiziell zur Mittelschicht gezählt werden, von denen aber die meisten nicht wissen, ob sie morgen noch dazugehören.
Wieviel ist dran an der Erfolgsstory einer wachsenden Mittelschicht?
Vor rund zehn Jahren häuften sich in der Presse Berichte über ein stetiges Wachstum der Mittelschicht in vielen Staaten Afrikas. Die meisten dieser Untersuchungen kamen von Unternehmensagenturen und Banken, die mit ihrem Bild von den boomenden Märkten wohl auch eigene Interessen verfolgten. Eine dieser Studien trug den Titel „The Rise and Rise of the African Middle Class“. Ganz so, als gäbe es nur eine einzige Richtung.
Zehn Jahre später leben in Kenia von den rund 50 Millionen Menschen immer noch weit mehr als ein Drittel in Armut. Andererseits konnten sich tatsächlich viele daraus befreien. Eine wachsende Zahl gut ausgebildeter Kenianerinnen und Kenianer versorgt als Ärztinnen und Pfleger Kranke, gründet wie Ruth Abade kleine Unternehmen oder entwickelt innovative IT-Lösungen für lokale Märkte. Das jahrelange Wirtschaftswachstum hat in vielen afrikanischen Ländern eine unternehmerische Mittelschicht hervorgebracht. Dazu beigetragen hat auch die Verbreitung von Smartphones, die für viele Menschen Zugang zu Informationen und Finanzdienstleistungen bieten.
Wer genau zur Mittelschicht gehört, bleibt umstritten. Laut einer Studie der Afrikanischen Entwicklungsbank ist die Mittelschicht des Kontinents schon zwischen 1980 und 2010 von 126 Millionen auf 350 Millionen gewachsen – von 27 auf 34 Prozent der Bevölkerung. Allerdings schloss das jeden Menschen ein, dessen Pro-Kopf-Ausgaben zwischen 2 und 20 Dollar am Tag lagen – wobei die Zahl derer, die zwischen 2 und 4 Dollar am Tag ausgaben, am größten war. So räumte die Entwicklungsbank denn auch ein, dass 60 Prozent dieser Mittelschicht an der Grenze zur Armut leben.
Eine chronische Krankheit kann eine ganze Familie in den Ruin stürzen
Die Angst abzurutschen kennt auch der 41-jährige Familienvater Mike Mburu. „Ein medizinischer Notfall“, antwortet er auf die Frage, wovor er sich am meisten fürchtet. „Was wird aus meinen Kindern, wenn mir etwas passiert?“ Erst seit drei Monaten hat er eine feste Anstellung bei einem Verlag, die ihn, seine Frau und die drei kleinen Töchter im Krankheitsfall absichert. Als freiberuflicher Eventmanager musste er noch jede Behandlung beim Arzt selbst bezahlen. Teure Behandlungen sind allerdings nicht abgedeckt. So kann ein schwerer Unfall oder eine chronische Krankheit ganze Familien in den Ruin stürzen. Denn die meisten Angestellten in Kenia versorgen mit ihrem Einkommen die erweiterte Familie und oft noch Menschen im Bekanntenkreis mit.
Auch im Alter müssen sich viele Menschen in Kenia Sorgen machen, denn die Leistungen aus der staatlichen Rentenversicherung – wenn man überhaupt eine hat – sind viel zu gering, um davon leben zu können. Um später nicht zu verarmen, gehen viele noch einer Nebenbeschäftigung nach. Mike Mburu hat im Garten seines Opas auf dem Land Bienenstöcke aufgestellt. In einem guten Jahr mache er damit bis zu 1.600 Euro Gewinn, sagt er.
Die Modedesignerin Ruth Abade verfügt über kein solches Sicherheitsnetz. „Darüber denke ich gar nicht nach“, sagt sie. „Ich betrachte das Leben nicht aus dieser Perspektive. Ich versuche im Hier und Jetzt zu tun, was ich kann.“ In all den Jahren hat sie es geschafft, ihre Angestellten pünktlich zu bezahlen. Sie verdienen im Durchschnitt 200 Euro monatlich. Als die Coronapandemie Kenia traf, nutzte Ruth ihre Ersparnisse, um das Label am Laufen zu halten. Die Miete für ihre Wohnung, die sie sich mit einer Freundin teilt, trägt das Label. Für Essen zahlt sie sich ein Taschengeld aus. „Diese afrikanische Mittelklasse, von der alle reden: Ich glaube nicht, dass die überhaupt existiert“, sagt Ruth Abade. „Viele Leute leben ein Leben, das sie sich gar nicht leisten können, nehmen Kredite auf, die sie nicht zurückzahlen können. Das hat die Pandemie deutlich gemacht: Leute verlieren ihren Job, haben keine Ersparnisse und stehen vor dem Nichts.“
Für manche ein Game-Changer: eine Anstellung in einer internationalen Firma
Vivian Magero muss sich diese Sorgen vorerst nicht machen. Ihren Master hat die 32-Jährige in Deutschland gemacht. Als Teamleiterin bei einer deutschen Organisation, die sich um den kulturellen Austausch zwischen Kenia und Deutschland kümmert, verdient sie etwa 1.500 Euro im Monat. Damit gehört sie in Nairobi zu denen, die ins Restaurant gehen, anstatt nur an den Straßenständen zu essen. Sie macht Reisen und Ausflüge mit dem Mountainbike. Aber Magero denkt nicht nur an sich. Sie unterstützt ihre Familie auf dem Land. „Ich sehe das nicht als Last“, sagt sie. Ihrer Mutter, die eine Grundschule leitet und etwa 100 Euro im Monat verdient, überweist sie monatlich 200 Euro und hilft damit auch ihren jüngeren Geschwistern und weiteren Kindern, die die Mutter aufgenommen hat. Sie alle leben in einem kleinen Haus, das Magero ihrer Mutter bauen ließ. Weitere 200 Euro kann sie sparen, während sie einen Studienkredit und den Kredit für das Haus der Mutter abbezahlt. „Wenn man mehr hat, muss man etwas abgeben“, sagt sie. „Das ist die Tradition.“