Katharina hat das Chatprogramm ICQ auf ihrem Computer geöffnet und denkt nach. Soll sie auf einen der Namen ihrer Freunde klicken? Ein Gespräch starten? Alles erzählen? Bloß wie? Und was überhaupt? Vielleicht spricht mich jemand an, hofft Katharina und starrt auf den Bildschirm, auf die Namen der Freunde, die online sind und dann offline gehen und wieder online sind, ohne ihr Warten zu erahnen. "Ich hätte mir in dem Moment wirklich gewünscht, jemand würde mal fragen", sagt Katharina. "Ich habe mir gewünscht, die anderen würden meine Einsamkeit von außen beenden."
Wenn Katharina das erzählt, hat man nicht das Gefühl, mit einem Menschen zu sprechen, der sich vor der Welt vergräbt. Sie hat im Sportverein mitgemacht, spielt Querflöte und Klavier, will Lehrerin werden und engagiert sich in der Fachschaft an ihrer Uni. Doch seit einem Praktikum in einer Schule im vorigen Sommer ist irgendetwas aufgebrochen. Die Stimmung im Kollegium ist seltsam. Sie habe sich nicht ernst genommen gefühlt, erzählt Katharina. Kann man wegstecken. Meint sie. Aber das seltsame Gefühl bleibt. Irgendwo ist jetzt ein Riss, durch den der Lebensmut wegsickert. Die Querflöte lässt sie liegen. Sie geht nach den Seminaren nicht mehr mit den anderen in die Mensa essen, dann gar nicht mehr zur Uni. Wochenlang. Wenn einmal jemand nachfragt, erzählt sie etwas von Rückenschmerzen. Was sogar stimmt.
Defizit an Freundschaft?
Katharina spürt, dass da etwas wegsackt, es stiller wird und die Wände weißer. An dem Abend, als die Fachschaft ihre Weihnachtsfeier hat und Katharina alleine zu Hause sitzt, ist die Stille schließlich kaum zu überhören. Früher hätte die 20-Jährige solche Feste selbst mitorganisiert, jetzt sitzt sie da und denkt sich wund an der Einsamkeit. "Ich habe geheult. Und dann entschieden, zum Arzt zu gehen."
Psychologen wissen längst, wie eng Freundschaften und unser seelisches Wohlbefinden zusammenhängen. Und wie schwierig es doch ist, wirkliche Freunde zu haben. Der Berliner Psychotherapeut Wolfgang Krüger hat ein Buch darüber geschrieben: "Wie man Freunde fürs Leben findet" heißt es und ist bei Herder erschienen. Krüger sagt: "Eigentlich alle seelischen Probleme gehen mit einem Defizit an Freundschaften einher." Einem Drittel aller Frauen und zwei Drittel aller Männer fehlt es ihm zufolge an guten, engen Freundschaften. Es ist eine erschreckend hohe Zahl und überraschend für eine Zeit, in der fast jeder hunderte Facebook-Kontakte sammelt. Keine Freunde zu haben, ist eines der großen Tabus.
Dabei brauchen wir Menschen, denen wir uns anvertrauen können. Wir brauchen jemanden, der zu uns hält, wenn wir in einer Krise stecken, damit wir nicht den Glauben an uns selbst verlieren. "Wer einsam ist, geht immer unsicherer durchs Leben", sagt Krüger. "Ohne Freunde wird das Ich löchrig wie ein Schweizer Käse."
Als Katharina kurz vor Weihnachten beim Arzt sitzt, erklärt er ihr, dass sie in eine Depression gerutscht ist. Es ist eine tückische Krankheit, eine harte Probe für soziale Beziehungen. "Jemand, der gesund ist, kann schwer nachvollziehen, was in einem Depressiven vorgeht", sagt Katharina. "Ich hatte sogar überlegt, Freundschaften zu beenden, weil ich gemerkt habe: Hey, irgendwie reden wir aneinander vorbei." Eine Abwärtsspirale setzt sich in Gang: Je düsterer die Stimmung, desto schwerer fällt der Kontakt zu anderen. Man mag eben nicht am Mensa-Tisch über Professoren lästern und abends feiern gehen. Und je flüchtiger und seltener die Kontakte werden, desto düsterer wird die Stimmung.
Das Unterschätzen der Freundschaft
Das Tückische an Freundschaften ist ihr inoffizieller Charakter. Sie sind die Begleiterscheinungen von Schule, Studium oder Job, vom offiziellen Teil unseres Lebens. Wen wir lieben, den heiraten wir vielleicht eines Tages, aber für Freundschaften fehlen diese starken Vergewisserungssymbole. Man sieht sich im Seminar oder geht ins Kino, weil man am selben Film interessiert ist, aber man spricht selten aus, dass man befreundet ist. Deswegen fehlen so vielen Menschen echte Freunde. Deswegen bemerkt man oft gar nicht, wie man sie verliert. Und was man mit ihnen verliert.
Ihre wenigen Kräfte konzentrierte Katharina auf den offiziellen Teil des Lebens, auf das, was danach schreit gemacht zu werden. Auf das Studium, auf Prüfungen. "Das Erste, wozu man bei einer Depression keine Kraft hat, ist es, Freundschaften zu pflegen", sagt sie. "Weil einem das irgendwie am ehesten verzichtbar erscheint."
Dabei wären sie das Erste, woran man sich halten sollte.
Der Psychotherapeut Wolfgang Krüger fragt die Menschen, die zu ihm kommen und an Ängsten, gedrückter Stimmung oder Schlafstörungen leiden, immer direkt nach ihren Freunden. Wer sind die drei besten? Wie eng ist die Beziehung? Viele reagieren überrascht auf diese Fragen und verstehen oft gar nicht, was sie mit ihren Problemen zu tun haben. "Weil Freundschaft so nebenbei passiert, wird sie von vielen unterschätzt. Ein Riesenfehler!"
Hinsetzen und Bilanz ziehen
Nach ihrer Diagnose hat sich Katharina entschlossen, offensiv mit der Krankheit umzugehen und ihre Freunde einzuweihen. In einer Mail hat sie die Symptome beschrieben und gebeten, sie auch weiterhin zu fragen, ob sie bei Unternehmungen dabei ist. Und nicht zu resignieren, wenn sie wieder absagt, weil ihre Stimmung am Boden ist. Den Kontakt aufrecht zu erhalten. "Die Freundschaft selbst", sagt Katharina, "wird ja so gut wie niemals thematisiert."
Etwa einmal im Jahr bittet daher auch Krüger seine Patienten zu einem Freundschaftskurs. Sie setzen sich zu einem Gesprächskreis zusammen und jeder soll seine Freundschaften schildern. Manchmal gibt es kleine Hausaufgaben. Zum Beispiel, bis zur nächsten Gruppenstunde jemanden neu kennen zu lernen und eine Verabredung zum Kaffee hinzubekommen. Oder darüber nachzudenken, wie gut man seinen besten Freund wirklich kennt. "Man muss sich einfach gelegentlich hinsetzen und Bilanz ziehen", sagt Krüger. Das klingt buchhalterisch, aber Freundschaft muss organisiert werden, um im Alltag nicht unterzugehen. Man muss sich ihrer immer wieder bewusst werden. Krüger macht es selbst so: Einen Freund, den er seit 20 Jahren kannte, bat er eines Tages, ihm einmal seine Fotoalben zu zeigen. Weil er trotz der Jahre doch so wenig über ihn wusste.
Bernd Kramer schreibt für Magazine und Zeitungen. Er lebt in Köln.