Wogegen musste man denn protestieren?

Ein junger Mann besucht seine Freundin in ihrer Wohnung, sie kochen, sie schmusen, vielleicht übernachtet er bei ihr. Eigentlich ihre Privatsache und ganz normal. Aber nicht in den 60er-Jahren. Damals wurde es nicht so gern gesehen, wenn unverheiratete Paare ganz offen ihre Zuneigung und Liebe zeigten. Wer einem unverheirateten Paar eine Wohnung vermietete, machte sich der sogenannten Kuppelei schuldig und riskierte dafür sogar eine Freiheitsstrafe. Man nannte das auch Beförderung der „Unzucht“, womit ein sexuelles Verhalten gemeint war, das gegen die gesellschaftlichen Normen verstieß. Für Jugendliche, die noch bei ihren Eltern wohnten, galt die Sittenstrenge umso mehr. „Einen Jungen zu treffen war, wenn überhaupt, nur unter absoluten Sicherheitsvorkehrungen möglich. Händchen halten oder gar Küsse, ganz zu schweigen von anderen Intimitäten, waren niemals öffentlich sichtbar“, erinnert sich die Filmemacherin Helke Sander, eine Vorkämpferin der Frauenbewegung. Auch die gewann damals an Bedeutung, denn mit der Emanzipation war es noch nicht so weit her: Für Frauen war die Rolle als Mutter und Hausfrau vorgesehen, der Mann galt als Ernährer der Familie.

Neben dem Gesetz, das die Kuppelei unter Strafe stellte, gab es noch andere Paragrafen, die das sexuelle Miteinander bestimmten beziehungsweise einengten: So stellte der Paragraf 175 den einvernehmlichen Sex unter schwulen Männern unter Strafe (siehe Kasten). Erst später wurde er so abgeschwächt, dass er den Sex mit unter 18-Jährigen verbot. Tausende von Männern wurden aufgrund dieses Paragrafen verurteilt. In vielen Bundesländern war sogar seit der Nazizeit noch eine Verordnung gegen Verhütungsmittel in Kraft. Und selbst die Ausstellung oder der Verkauf pornografischer Bilder waren seit 1952 per Bundesgesetz verboten.

Der Beginn der Aufklärung

Schon im Verlauf der 60er-Jahre hatten sich Leute wie der Journalist und Filmemacher Oswalt Kolle darangemacht, anstelle einer von vielen empfundenen Verklemmtheit auf Aufklärung und Zärtlichkeit zu setzen. In seinem zweiteiligen Aufklärungsfilm „Wunder der Liebe“ hatten zwischen 1968 und 1970 schätzungsweise sechseinhalb Millionen Deutsche wahrscheinlich das erste Mal in ihrem Leben Paaren beim Liebesakt zugeschaut. Zuvor musste Kolle lange mit der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) verhandeln, die noch heute Altersempfehlungen für Filme ausspricht. Angeblich sagte einer der Zensoren folgenden Satz: „Herr Kolle, Sie wollen wohl die ganze Welt auf den Kopf stellen, jetzt soll sogar die Frau oben liegen!“

Tatsächlich änderte sich die Welt des Sex in diesen Jahren rapide: Zur Popularisierung der sexuellen Aufklärung trugen auch Zeitschriften wie „Quick“ oder „Jasmin“ bei. Auch die als „Produkte für Ehehygiene“ getarnten Sexspielzeuge von Beate Uhse fanden seit Anfang der 60er-Jahre ihre Abnehmer. Den größten Effekt auf das Sexualleben der Deutschen hatte aber die Erfindung der Antibabypille (später nur Pille genannt), die 1961 in Deutschland zugelassen wurde. Frauen, die vorher eine ungewollte Schwangerschaft und damit auch eine gesellschaftliche Ächtung befürchtet hatten, konnten nun angstfrei ihre Sexualität leben.

Make love, not war: die Studentenproteste

Schon zu Beginn der 60er-Jahre verschärften sich die Konflikte zwischen Jung und Alt. Jugendliche, die lange Haare trugen, wurden von älteren Leuten offen als „Gammler“ beschimpft. Als eine Gruppe junger Leute an einem späten Juniabend im Jahr 1962 auf Münchens angesagtestem Boulevard Musik machte und Passanten spontan dazu tanzten, eskalierte die Lage: Polizei rückte an, und es kam zu mehrtägigen Straßenschlachten, aus denen die sogenannten Schwabinger Krawalle wurden. In den folgenden Jahren stellten viele Jugendliche die Grundwerte ihrer Eltern zunehmend infrage: Disziplin, Sauberkeit und Gehorsam. Sie fragten nach der Aufarbeitung des Nationalsozialismus, sie protestierten gegen den Krieg der USA in Vietnam und die in ihren Augen hetzerische Presse aus dem Verlag von Axel Springer, allen voran die „Bild“-Zeitung.

Viele Universitäten waren zu diesem Zeitpunkt Hochburgen des Protests. In autonomen Seminaren wurden Texte von Philosophen wie Adorno, Horkheimer und Marcuse diskutiert. Oder auch die des Psychologen und Sexualforschers Wilhelm Reich, auf den der Begriff „sexuelle Revolution“ zurückgeht. Reich, dessen Buch „The Sexual Revolution“ in Deutschland bereits 30 Jahre zuvor unter dem Titel „Die Sexualität im Kulturkampf“ erschienen war, war der Meinung, dass eine Befreiung der Sexualität zu friedlicheren Verhältnissen führte. Diese Überzeugung fand sich schließlich in einer viel zitierten Parole wieder: „Make love, not war.“

Ein Foto, auf dem alle nackt an der Wand stehen, wurde zur Ikone

„Das Private ist politisch!“ – so lautete ein anderes Motto aus der damaligen Zeit. Und so sollte nicht nur theoretisch diskutiert werden, sondern jeder seine Lebensumstände ändern. Wie das aussehen konnte, zeigte die Kommune 1, eine Art politische Wohngemeinschaft, die zunächst in einer geräumigen Berliner Altbauwohnung ihre Heimstatt fand und zu deren Programm auch die Liberalisierung des Sexuallebens gehörte. „Was geht mich der Vietnamkrieg an, solange ich noch Orgasmusschwierigkeiten habe“, sagte Dieter Kunzelmann, einer ihrer Bewohner.

Wer dort einziehen wollte, musste mit seinen materiellen Eigentumsansprüchen auch jene an einen Partner für alle Zeiten drangeben. Die monogame Zweierbeziehung wurde als kleinbürgerlich und spießig angesehen. Ein Foto aus der Kommune 1 wurde zur Ikone der sexuellen Revolution: Nackt und mit ausgestreckten Armen stehen die WG-Bewohner wie bei einer Razzia mit dem Gesicht zur Wand. Nur ein kleiner Junge dreht sich neugierig um. Auch sonst wussten die Kommunarden um ihren medialen Wert und ließen sich eifrig von Journalisten besuchen.

Als „Busen der Revolution“ wurde das Fotomodell Uschi Obermaier bezeichnet, das zunächst mit dem Kommunarden Rainer Langhans (einer der prominentesten 68er) zusammen war, dann aber auch Liebesbeziehungen zu weltbekannten Musikern wie Jimi Hendrix oder Mick Jagger hatte, die den Soundtrack für das damalige Lebensgefühl lieferten.

Hat der Sex die Menschen glücklich gemacht?

Wie wahrhaftig das Leben in all den politischen Gruppen war, die sich damals nach dem Vorbild der Kommune 1 gründeten, ist bis heute umstritten. Auf jeden Fall fühlte sich das freie Sexualleben mit wechselnden Partnern für manchen schmerzvoller an, als es die Theorie vorsah. Die Autorin Gabriele Gillen schreibt in ihrem Buch „Das Wunder der Liebe. Eine kleine Geschichte der sexuellen Revolution“, dass die freie Liebe nicht selten an Eifersucht und Überforderung scheiterte. In endlosen Gruppensitzungen seien Beziehungsprobleme und Geschlechterrollen durchgearbeitet worden, und mancher habe beim Versuch, die bürgerlichen Ideale hinter sich zu lassen, emotionalen Schiffbruch erlitten. So wurde wohl unterschätzt, wie sehr man durch völlig freies Ausleben seiner Triebe auch andere Menschen verletzen kann und wie sehr sich viele Menschen nach Geborgenheit in einer Zweierbeziehung sehnen. Außerdem wurde die Sehnsucht nach sexueller Freiheit sehr schnell kommerzialisiert. Findige Zeitschriften- und Filmemacher („Schulmädchen-Report“) warfen Unmengen von Softporno-Schund auf den Markt, um am neuen Lebensgefühl zu verdienen, und trugen so zum Ende der Unschuld bei.

Was bringt es uns heute?

„Ohne Achtundsechzig wäre es nie zu dieser Freiheit gekommen, mit der heute jeder seine sexuellen Vorlieben ausleben darf, geschweige denn zu der Selbstverständlichkeit, mit der man heute überhaupt beansprucht, sexuelle Erfüllung zu finden“, sagt Wolfgang Kraushaar, Politikwissenschaftler und Chronist der 68er-Generation. Aber er übt auch Kritik. „Maßlos überschätzt wurde sicher die politische Bedeutung des Sexuellen als revolutionäre Kraft, und unterschätzt die Fähigkeit des Marktprinzips, diese Strömungen in sich aufzunehmen und in Sex sells zu verwandeln.“ Doch es gebe auch eine Habenseite: Das Ende der alten Rollenmuster, die Neudefinition der Geschlechterbeziehungen, die Frauenbewegung, die Schwulenbewegung, all diese Emanzipationsschübe hätte es wohl nie gegeben. Ist die Sexrevolution damit am Ziel? Ganz ein Vertreter seiner Generation, sagt Kraushaar: nein. Das heutige System erzeuge mitunter Illusionen von sexueller Freiheit, wo die Gefühle längst vom Marketing vereinnahmt sind.

Schwuler Sex war lange verboten, die Vergewaltigung der Ehefrau nicht

Jährlich gibt es am 17.5. weltweit Aktionen gegen Schwulenfeindlichkeit. Das Datum wurde gewählt, weil die Weltgesundheitsorganisation (WHO) an diesem Tag des Jahres 1990 Homosexualität aus der Liste psychischer Krankheiten gestrichen hat. In Deutschland erinnern die Zahlen zusätzlich an ein umstrittenes Gesetz: Der Paragraf 175 des deutschen Strafgesetzbuches trat 1872 in Kraft und stellte sexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe (bezeichnenderweise auch Sex mit Tieren). Er existierte 122 Jahre lang in verschiedenen Fassungen. Insgesamt wurden etwa 140.000 Männer nach §175 verurteilt. Erst unter der Großen Koalition wurde das Gesetz 1969 liberalisiert. Seitdem waren nur noch homosexuelle Handlungen mit unter 18-Jährigen strafbar (bei Lesben und Heterosexuellen lag dieses Schutzalter bei 14 Jahren).

In der DDR wurde Homosexualität unter Erwachsenen bereits Ende der 50er-Jahre nicht mehr bestraft. Es existierte aber der §151, der homosexuellen Kontakt mit Jugendlichen sowohl für Männer als auch für Frauen unter Strafe stellte. 1988 wurde er ersatzlos gestrichen. Im vereinigten Deutschland wurde der §175 erst 1994 abgeschafft. Heute ist das Schutzalter für Hetero- und Homosexuelle gleich (14 Jahre). Sex mit Tieren ist straffrei, solange es sich nicht um Tierquälerei handelt.

Während männliche Homosexualität lange Zeit strafbar war, wurde eine Vergewaltigung in der Ehe über Jahrzehnte nicht geahndet. Der entsprechende §177 StGB galt nur für erzwungene außereheliche sexuelle Handlungen. Erst 1997 stellte eine Gesetzesnovelle die Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe.