Von einem Tag auf den anderen machte Louis Armstrong Schluss. Vorbei waren die Nachmittage, an denen er Reisende auf dem trägen Mississippi mit Unterhaltungsmusik bespaßte. Vorbei auch die schlecht bezahlten Auftritte in den Kneipen und Bordellen seiner Heimatstadt. 1922 kehrte Armstrong New Orleans den Rücken und machte sich auf den Weg nach Norden. In Chicago und New York wurde der Jazztrompeter mit der tiefen Stimme dann zur Legende.
Armstrong war einer von etwa sechs Millionen Afroamerikanern, die zwischen 1910 und 1970 die Südstaaten der USA verließen, um in den Städten des Nordens und Westens ihr Glück zu versuchen. Sie hatten Ähnliches im Blick wie dieser Tage Flüchtlinge und Migranten in Europa: ordentlich bezahlte Arbeit, Sicherheit und die Chance auf ein Leben in Freiheit. Denn wirklich frei waren die Schwarzen im Süden auch nach der Abschaffung der Sklaverei 1865 nicht. Rassengesetze sorgten dafür, dass sie Bürger zweiter Klasse blieben: Sie durften nicht neben Weißen sitzen, keine guten Schulen besuchen und wurden am Wählen gehindert. Dazu kam die Gewalt: Zwischen 1877 und 1950 brachten Weiße in zwölf Südstaaten der USA fast 4.000 Afroamerikaner um.
Gleichzeitig sorgte der Erste Weltkrieg dafür, dass im Norden Arbeitskräfte für die Rüstungsindustrie gesucht wurden. Auch andere Industrien boomten. Und so kam es zu einer regelrechten Massenbewegung: Die sogenannte Great Migra-tion war eine „Revolution ohne Führer“, wie die Journalistin Isabel Wilkerson in ihrem Bestseller „The Warmth of Other Suns“ schreibt. Es gab Wochen, in denen täglich Hunderte Migranten aus dem Süden Chicagos Bahnhöfe erreichten. Allein hier wuchs die Zahl der Afroamerikaner in den 30 Jahren nach 1910 von 40.000 auf knapp 280.000.
Die „Große Migration“ sollte die USA für immer verändern, denn die Menschen waren gekommen, um zu bleiben. Viele der meist schlecht ausgebildeten Arbeiter aus dem Süden standen ökonomisch aufgrund der florierenden Industrie nun auf eigenen Beinen und konnten ihren Kindern eine bessere Bildung ermöglichen. Ein neues Selbstbewusstsein entstand, was den Grundstein für die spätere Bürgerrechtsbewegung legte.
Die Afroamerikaner brachten auch den Jazz mit nach Norden, von wo aus er dann im Sturm die Metropolen der Welt eroberte. In den neuen „schwarzen“ Stadtvierteln wie der South Side Chicagos oder Harlem in New York blühte das Nachtleben. Weiße begannen, die Musik der Schwarzen zu hören und nicht selten selbst zu spielen. Die ersten „gemischten“ Bands entstanden, schwarze Musiker ernteten Anerkennung, und ihre Plattenverkäufe schossen in die Höhe.
Die „wunderbare Welt“, die Armstrong in seinem gleichnamigen Song beschrieb, wurde für manch Schwarzen Realität. Doch die Geschichte der „Großen Migration“ ist auch eine Geschichte von geplatzten Träumen. So mussten schwarze Musiker selbst im liberalen New York oft den Hintereingang benutzen, wenn sie in einem von Weißen besuchten Club auftraten. Vor allem aber setzte sich die Rassentrennung des Südens in den Siedlungsstrukturen des Nordens fort. Schon bald gab es in Städten wie Chicago oder Baltimore Stadtviertel, die fast ausschließlich von Schwarzen bewohnt wurden. Die Weißen, die dort bislang gelebt hatten, fürchteten den Preisverfall ihrer Immobilien, Gewalt oder schlicht die Veränderung ihres Lebensumfelds und zogen in andere Teile der Stadt – ein Phänomen, das als „White Flight“, als „Flucht der Weißen“ bekannt wurde. Der Boom der Autoindustrie nach dem Zweiten Weltkrieg beschleunigte diese Entwicklung noch. Die, die es sich leisten konnten, bauten sich neue Häuser am Stadtrand und pendelten mit dem Auto zum Arbeitsplatz. Zurück blieben vor allem Schwarze, die wegen ihres geringen Einkommens nur wenig Steuern zahlten – was zu einem Verfall der Krankenhäuser, Schulen und der Infrastruktur führte. Eine stadtplanerische Katastrophe nahm ihren Lauf.
Ein extremes Beispiel dieser Entwicklung ist die Stadt Flint, wo 1908 der Automobilkonzern General Motors gegründet wurde. Die Einwohnerzahl kletterte von 13.000 im Jahr 1900 auf 156.000 in 1930 – darunter viele Afroamerikaner. Musikclubs eröffneten, Bürotürme wuchsen in den Himmel. Das ging bis 1960. Dann kamen Flint im Zuge der Automatisierung und Globalisierung erst die Industriejobs abhanden, dann die Menschen. Wer es sich leisten konnte, zog weg.
Doch natürlich gibt es auch Orte in den USA, die sich anders entwickelten, Orte der gelebten Vielfalt, wo Schwarze und Weiße, Hispanics und Asian Americans Tür an Tür leben. Vor allem in den hippen Quartieren und Uni-Vierteln der Großstädte ist das so. In Williamsburg in New York, Wicker Park in Chicago oder San Franciscos Mission District. Allerdings ist die soziale Mischung überall dort gefährdet, wo Viertel gerade wegen ihrer Vielfalt in Mode kommen und einkommensstärkere Mieter und Käufer die Preise hochtreiben. Diese Gentrifizierung ist zum Beispiel in Brooklyn stark zu spüren.
„Ich höre Babys schreien, ich sehe sie aufwachsen, sie werden viel mehr lernen, als ich jemals wusste, und ich denke mir: Was für eine wundervolle Welt“, so lauten einige Zeilen des Armstrong-Songs „What a Wonderful World“. Für die meisten Nachkommen derer, die während der „Great Migra-tion“ in die heute abgehängten Stadtviertel der US-Großstädte gezogen sind, ist das ein Wunschtraum geblieben. Joel Stone, Kurator bei der Historischen Gesellschaft Detroit, drückte es in einem Interview so aus: „Wir mussten die Erfahrung machen, dass Integration manchmal 100 Jahre dauern kann.“