Sie lief über Scherben, ließ sich mit einem Betonklotz in ein Wasser becken werfen, balancierte in 40 Meter Höhe, brach sich die Rippen. Sie gewann die TV-Spielshow mit einer Sekunde Vorsprung. Die 50 000 türkischen Lira bekam Eliz Sakucoglu trotzdem nicht. Ihr Problem: Gewinnen dürfen nur Türken. Eliz ist Deutsche. Seit ihrem 19. Lebensjahr. „Ich bin Türkin“, sagt Eliz und nippt an ihrem Vitamindrink, hinter ihr glitzert der Bosporus. Die Sommersonne hat das „Assk Café“ in Ortaköy, Treffpunkt der Istanbuler High Society, schon am frühen Vormittag aufgeheizt. Eliz ist 22, blond gefärbt und tief dekolletiert. Aus ihrem Ausschnitt blitzt ein Teufels-Tattoo. „25 000 Euro! Die von der Show wussten, dass ich einen deutschen Pass habe!“, sagt sie, immer noch empört. Die Aufzeichnung war im März. Eliz war sechs, als ihre Eltern beschlossen, von Antakya am Mittelmeer nach Passau zu ziehen. „Es war schlimm. Ich hatte Heimweh und verstand kein Wort“, erinnert sie sich an die Ankunft in Deutschland. Zwischen dem türkischen Kind und der jungen Istanbulerin liegen 15 Jahre. Im Kindergarten lernte sie erst einmal Deutsch, mit acht Jahren kam sie in die Schule.
Ihre Eltern ließen sich scheiden, Eliz und ihre zwei Jahre jüngere Schwester Duygu blieben beim Vater. Eliz tobte sich in den Clubs der Stadt aus, wiederholte die zehnte Klasse, verließ dann das Gymnasium und begann eine Ausbildung in einer Boutique. Sie war 18, als sie in ihre erste eigene Wohnung zog. Ihre Mutter, die nach der Scheidung in ihre Heimat zurückgekehrt war und in Istanbul als Eventmanagerin arbeitet, sahen sie und Duygu nur in den Ferien. Istanbul war ein Shoppingparadies, in dem sie die Nächte durchtanzte. „Ich habe immer geheult, wenn ich wieder zurück nach Deutschland musste.“ Seit anderthalb Jahren lebt sie in ihrem ehemaligen Ferien-Wunderland, im luxuriösen Apartment ihrer Mutter, hoch über der Stadt in Levent. Eliz’ Leben änderte sich, kurz nachdem sie ihre türkische Staatsbürgerschaft aufgegeben hatte, weil ihre Eltern fanden, das Leben mit deutschen Papieren sei unkomplizierter.
Sie hatte damals gerade die Lehre abgebrochen, war zu ihrem Freund nach Bremen gezogen und jobbte. Ab und zu flog sie in den Urlaub zu ihrer Mutter. Einmal fotografierte sie dort ein befreundeter Modedesigner, „einfach so“. Sie war wieder in Bremen, als eine türkische Modelagentur anrief: „Wir wollen dich.“ Eliz kam. Jetzt arbeitet sie als Sekretärin im Istanbuler Büro einer deutschen Seefrachtgesellschaft, die Modelkarriere liegt auf Eis. Denn Eliz will ihre 25 000 Euro, sie hat einen Anwalt eingeschaltet. Das passe der Agentur nicht, vermutet sie, während sie in ihrem Müsli stochert. Statt zu essen zieht sie an ihrer weißen Damenzigarette. Ihre Finger sind manikürt, die Fußnägel granatapfelrot, ihre aktuelle Haarfarbe „karamell-honigfarben“.
Sie hofft noch auf den Gewinn aus der TV-Show, damit will sie sich ein Modestudium finanzieren. Der Ärger um ihren Pass, das sei typisch Türkei, schimpft Eliz, in Deutschland gehe es geregelter zu. „Es ist gut für sie, dass sie hierher gekommen ist“, findet ihre Mutter. Sie sagt etwas von „Reifeprozess“. Vielleicht meint sie: Eliz hat begriffen, was es bedeutet, in Istanbul zur Oberschicht zu gehören. Eliz weiß, dass ihre Kollegen nicht mit dem Taxi zur Arbeit fahren. Und sie weiß, dass sie es in Deutschland ohne Abitur bei der Arbeitssuche schwer gehabt hätte. „Hier bin ich mit Deutsch, Türkisch und Englisch top qualifiziert.“ Eliz sagt, was sie denkt. Ihre Offenheit wirkt auf manche fremd in dieser Stadt. Türkische Mädels, sagt sie, hielten sie für eine Schlampe. In Istanbul hat sie erst wenige Freunde, einige davon aus Antakya. In Passau war sie „die Eliz“, „da kannten mich alle“. Sie vermisst ihre Schwester, die in Deutschland geblieben ist und eine Ausbildung in einem Hotel macht. Sie telefonieren fast täglich. Seit ein paar Monaten hat Eliz ihren ersten türkischen Freund, die Fernbeziehung nach Deutschland klappte nicht mehr.
„Ich hätte nie gedacht, dass ich das könnte“, sagt sie. „Türkische Männer sind so eifersüchtig. Wenn wir essen gehen, schaue ich nur noch ihn an und meinen Teller. Rumgucken ist nicht.“ Seine Eltern erlauben immerhin, dass sie bei ihm im Zimmer schläft. Eliz trägt jetzt lange Hosen, keine Miniröcke. Tiefe Ausschnitte sind noch genehmigt. Ob sie ein Kopftuch tragen würde? „Niemals!“, davon stehe sowieso nichts im Koran, habe ihr Opa ihr erklärt. „Ich bin Muslimin“, sagt Eliz. „Aber ich rauche, ich trinke – und bete nicht. Im Ramadan versuche ich zu fasten. Nur wird mir schlecht, wenn ich nichts esse.“ „Sie ist türkischer geworden“, findet ihre Mutter und meint damit auch „häuslicher“. Eliz passt sich an. Aber sie lässt sich im Hammam von Männern massieren, obwohl das ihrem Freund nicht gefällt. Noch testet sie, welche Teile ihrer deutschen Freiheit sie in der Türkei beibehalten kann. Sie streicht sich eine Haarsträhne hinters Ohr, der Ansatz ist schon nachgedunkelt. Wenn Türken sie für eine blonde Touristin halten, schnauzt sie sie mit „Siktirin gidin!“ an. Was das heißt? Sie lächelt: „Verpissts euch!“