Am Anfang muss eine Robbe sterben. Ein alter Mann im Pelzanorak, Lars heißt er, erlegt sie mit nur einem Schuss. „Du bist gut!“, lobt ihn seine Frau, und die beiden fahren mit dem Motorboot übers Eismeer, um das Tier einzusammeln. Und während Lars die Robbe zerlegt und sich das rohe Fleisch in den Mund steckt, erzählt er in seiner ruhigen, schnalzenden Sprache vom Jägersein. Davon, wie er einer wurde und warum jeder Mann in Thule, dem größten Ort im nördlichen Grönland, einer ist. Schon seit Generationen.
Ein blutiger Einstieg ist das. Doch so bringt Regisseur Matthias von Gunten gleich auf den Punkt, worum es in seiner Doku „ThuleTuvalu“ geht: ums Überleben nämlich. Nicht um das der Robben, sondern um das ihrer Jäger. Denn in Thule schmilzt das Eis und damit die Lebensgrundlage.
Schuld daran ist der Klimawandel. Ein unheilvoller Begriff, dessen Ausmaß die 635 Einwohner von Thule mehr und mehr zu spüren bekommen. Sie können sehen, wie sich ihre Heimat langsam verändert. Wie das Meer immer später zufriert. Die Tiere zu seltsamen Zeiten kommen. Die Schlittenhunde im dünnen Eis einbrechen. Und obwohl sie im Film immerzu lächeln, haben sie Angst.
Keine Gletschersimulationen – sondern Empathie für die Betroffenen
Genau das interessiert von Gunten – die direkten Folgen der Erderwärmung. Dafür braucht er nicht die üblichen Statistiken oder Gletscher-3-D-Simulationen. Auch keine Professoren vor Bücherregalen. Am Ende von „ThuleTuvalu“ soll kein bloßes faktisches Wissen über den Klimawandel stehen. Sondern Empathie für die Betroffenen – auch wenn die auf Robben schießen.
Von Guntens Film beschreibt den Klimawandel aus der Sicht einer anderen Kultur. Dafür geht der Regisseur wie ein Ethnologe vor. Beobachtet. Zeigt die elementarsten Dinge: Essen. Familie. Und immer wieder die Jagd. Minutenlang dokumentiert seine Kamera einfach nur, wie Lars durch den Schnee fährt oder bei minus 30 Grad einen toten Narwal aus dem Wasser zieht. So lange, bis man die Kälte selbst zu spüren meint. „Zwei Woche kann ich meine Familie davon ernähren“, erklärt der Grönländer. Wie lange noch, wisse er nicht.
Und dann ist da noch Tuvalu – ein Inselstaat im Pazifik, über 20.000 Kilometer von Thule entfernt. Dessen Inseln sind ebenfalls vom Klimawandel bedroht, denn an ihrer höchsten Stelle liegen sie nur fünf Meter über dem Meeresspiegel. Die Brunnen füllen sich mit Salzwasser, die Äcker liegen zum Teil brach, und die Palmen sterben ab. Die ersten Einwohner sind bereits nach Neuseeland übergesiedelt. Andere sparen dafür.
„Vorher haben Thule und Tuvalu nichts voneinander gewusst“, erklärt von Gunten. Doch schnell finden sich Gemeinsamkeiten: Auch in Tuvalu sind die Menschen stolz auf ihr Selbstversorgerdasein – sie jagen Fische und Wildschweine. Auch hier sind viele bewundernswert optimistisch und seltsam gelassen in Anbetracht ihrer Lage.
Während man in Thule daran glaubt, „nach“ dem Klimawandel vom Tourismus leben zu können, glaubt man hier an Gott. In einer der Interviewsequenzen erzählt Vevea, ein Greis im Blumenhemd, wie Noah die Sintflut überlebte und dass die Menschen hier auf ein ähnliches Wunder hoffen.
Damit lässt von Gunten die Zuschauer dann alleine. Ob sie Mitleid, Verbundenheit oder Befremdlichkeit fühlen, bleibt ihnen überlassen. Einordnende Off-Kommentare gibt es nicht. Auch keine vorgeformten narrativen Muster. Dafür viel Zeit fürs Zeigen und Gucken. Dabei bewahrt der Regisseur immer die nötige Distanz – an die Schauplätze reiste er mehrmals und nur mit zweiköpfigem Filmteam, um die Menschen nicht zu überfordern.
Was am Ende bleibt? Sicherlich viele Fragen an diese Menschen und ihre Vorstellung von der Erderwärmung. Aber auch so etwas wie Faszination für Thule und Tuvalu und ihre besondere Verbundenheit zur Natur. Zum Eis. Zur Sonne. Schneebergen. Palmen. Robben. Wildschweinen. Lars. Vevea. Am Ende verbindet sich das alles miteinander. Im Kopf des Zuschauers. Am Ende ist das alles thuletuvalu.
Christine Stöckel war weder in Thule noch in Tuvalu. Würde aber gerne mal hin