Was ist „zu Hause“? Und wo ist Heimat? Das wusste Ana Tijoux lange nicht. Sie kam in Frankreich auf die Welt, im Exilland ihrer Eltern. Die Diktatur von Augusto Pinochet hatte das Paar gezwungen, Chile zu verlassen. Tijoux fühlte sich fremd in diesem Land, in dem sie 1977 geboren wurde. Durch die Mutter, die als Sozialarbeiterin arbeitete, traf sie Einwandererkinder aus Marokko, Algerien, dem Senegal. „Der HipHop gab uns eine Identität und erlaubte uns, Frustration und Wut auszudrücken“, erklärte sie einmal. „HipHop war eine Katharsis und außerdem billiger als eine Therapie.“

Kritischer Geist und Rebellion: Beides gehört zu Ana Tijouxs Erziehung, seit sie denken kann. Ihre Eltern waren in Chile in einer sozialistischen Guerilla-Organisation aktiv gewesen. Der kleinen Ana schenkten sie ein Anti-Monopoly. Zunächst war diese enttäuscht, sie hatte sich das Original gewünscht – dessen Ziel: Grundbesitz anhäufen und die Mitspieler in die Insolvenz treiben. Das wollten die Eltern ihrer Tochter nicht fürs Leben mitgeben. Die Regeln des Anti-Monopoly: Besitz und Freiheit für alle. Aus diesen Spielregeln wurde eine Lebenseinstellung.

„Independiente yo nací, independiente decidí /
Yo no camino detrás de ti, yo camino de la par aquí“

Als Tijoux zu rappen beginnt, ist das MC-Dasein eine Männerdomäne, vor allem in Südamerika. Dorthin kehrte ihre Familie nach Ende der Diktatur zurück, als Tijoux 16 Jahre alt war. In Chile traf sie auf ein ungleiches Land, „in dem Studieren und der Zugang zum Gesundheitssystem Luxus sind“. Als Schüler und Studenten dort auf die Straße gingen, um für bessere Bildungschancen für alle zu protestieren, komponierte Tijoux das Lied „Shock“, das zur Hymne der Bewegung wurde. Der Rhythmus lädt zum Marschieren ein. Das Lied kritisiert die Bildungspolitik der Regierung: Bildung dürfe kein Geschäft sein.

Unabhängig bin ich geboren, unabhängig habe ich entschieden / Ich laufe nicht hinter Dir, sondern auf gleicher Höhe

Für Tijoux ist die Musik ein „Werkzeug, um mit der Welt im Dialog zu stehen“ – ein Dialog, in dem sie ihre Haltung nie verbirgt. Obwohl ihr viele anfangs rieten: Du machst Musik, halt dich raus aus der Politik! Aber für Tijoux muss Musik ehrlich sein. Und das ausdrücken, wofür sie steht: Feminismus, sexuelle Selbstbestimmung, Gewaltfreiheit, Indigenenrechte, Antifaschismus, Internationalismus. Die Liste ließe sich fortführen. Denn wenn ein Problem ihr nahegeht, setzt Tijoux sich ein.

Etwa Gewalt gegen Frauen: Ana Tijoux fordert in „Antipatriarca“ Frauen dazu auf, nicht länger unterwürfig und gehorsam zu sein, sondern emanzipiert und selbstständig die „Ketten der Gleichgültigkeit“ zu durchbrechen. In etlichen Ländern Lateinamerikas gibt es seit ungefähr zwei Jahren regelmäßig Proteste gegen Frauenmorde und Gewalt gegen Frauen. Viele Teilnehmer posten vor den Demos „Antipatriarca“ von Ana Tijoux auf Facebook oder Twitter. Und die Organisatoren einer Demo in Chile baten die Teilnehmer darum, den Text von „Antipatriarca“ auszudrucken und zu verteilen.

„Tu no me vas a humillar, tu no me vas a gritar /
Tu no me vas someter tu no me vas a golpear“

Tijoux sagt von sich selbst, sie sei eine „Anarchistin der Komposition und Antifaschistin der Musik“. Weil sie alles hört, von Public Enemy bis Chopin. Und in ihrer Musik verschiedenste Einflüsse vereint: Panflöten treffen auf elektronische Drums, südamerikanische Saiteninstrumente wie etwa das Charango auf Samples, melodiös gesungene Refrains auf klassischen Rap.

Längst hat Tijoux mit ihren kritischen Texten so großen Erfolg, wie ihn viele angepasste Musiker niemals erreichen werden. Mehrfach wurde sie für den Grammy nominiert. Ihr autobiographischer Song „1977“ wurde durch die US-amerikanische Fernsehserie „Breaking Bad“ weltweit bekannt. Die New York Times nannte Tijoux die „südamerikanische Antwort auf Lauryn Hill“.

Du wirst mich nicht erniedrigen, nicht anschreien / Du wirst mich nicht unterwerfen, nicht schlagen

Doch Tijoux will Glamour-Welt und Kommerz von ihren beiden Kindern fernhalten, solange es geht. Ein Stück weit scheint das sogar zu funktionieren. Einmal fragte ihr Sohn nach einer der Trophäen im Regal: „Wofür hast du diese bekommen, für welchen Sport? Fürs Schwimmen?“ „Die ist von den Grammys“, erklärte Tijoux. „Was für ein Sport ist das?“, wollte das Kind wissen.

Aber die Kleinen von allem abschirmen – ein Ding der Unmöglichkeit. Das musste Tijoux kürzlich dank Twitter erfahren. Ganz die stolze Mutter schrieb sie: „Wenn deine vierjährige Tochter ein Lied erfindet und singt: ‚Ich bin frei, endlich frei‘, sagst du dir: Was für ein kleines wunderschönes und denkendes Monsterchen habe ich erschaffen!“ Allerdings: Das Lied war von Disney, gesungen von Elsa in Walt Disneys Animationsfilm „Frozen“. Für ihren Fauxpas erntete Tijoux den Spott der Twitter-Gemeinde. Kein Problem für die Rapperin: Dass Fehler zum Leben gehören, davon ist sie überzeugt. „Ich habe selbst mehr Fragen als Antworten“, pflegt sie zu sagen. Eine Ode an das Fehlermachen hat sie ohnehin schon geschrieben: „Somos Todos Erroristas“.

 

Titelbild:  JEP Live Music / Alamy Stock Foto