
Wie ticken die denn?
Wie ein Schweizer Uhrmacherort zu einem Zentrum der Anarchie wurde
In einem Dorf im Schweizer Juragebirge, zwischen Berggipfeln und Uhrenwerkstätten, trafen sich im Herbst 1872 mindestens 200 Menschen, um die Welt neu zu ordnen. Sie kamen aus England, Italien, Spanien und Russland, Frankreich und der Schweiz. Ihr Treffpunkt: das Hôtel de la maison de Ville im Ort Saint-Imier, in dem vor allem Uhrmacher lebten.
Um eine Uhr herzustellen, waren damals um die 300 Einzelteile und mehr als 50 verschiedene Arbeitsschritte nötig. Die waren lange auf verschiedene Personen verteilt, auf Uhrmacher, Graveure, Federmacher und viele andere, die in kleinen Ateliers arbeiteten. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde aus diesem stillen Handwerk ein lautes: US-amerikanische Firmen konnten Uhren in Fabriken plötzlich so günstig herstellen, dass auch die Mittelschicht sie sich leisten konnte.
Für die Schweizer Unternehmer war klar: Bei diesen Preissenkungen mussten sie mithalten können. Sie gründeten auch im Jura Fabriken, in denen Maschinen größere Teile der Arbeit übernahmen. Um die Produktion zu beschleunigen, stellten die Unternehmer auch ungelernte Arbeiter für einfache Handgriffe ein. Die waren leicht zu ersetzen und kosteten weniger Lohn. Saint-Imier wurde ans Eisenbahnnetz angeschlossen, immer mehr Arbeitsuchende aus der Schweiz und dem Ausland kamen.
Lohnarbeit statt Selbstbestimmtheit
Doch wegen der starken internationalen Konkurrenz, der Industrialisierung und mehrerer Wirtschaftskrisen sanken die Löhne. Traditionelle Uhrmacher verdienten gerade genug, um zu überleben. Die Fabrikarbeiter hatten es noch schwerer. In der Fabrik zählte Tempo: Wer sich ablenken ließ oder zu spät kam, wurde bestraft.
Die Uhrmacher waren es gewohnt, selbstbestimmt zu arbeiten, in kleinen Werkstätten. Diese Freiheiten schienen vorbei. Die Krisen, die mit der Industrialisierung über ihr Tal hereinbrachen, sahen viele Uhrmacher als Symptome des wachsenden Kapitalismus. Arbeiterinnen und Arbeiter hatten keine Versicherung gegen Arbeitslosigkeit, keinen Kündigungsschutz, keine Lobby. Also begannen sie, sich selbst zu organisieren. Im Schweizer Jura gründeten sich Gruppen der Internationalen Arbeiterassoziation (IAA).
Die IAA war eine Vereinigung von Arbeitern aus aller Welt, gegründet 1864 in London. Sie setzte sich zum Ziel, die Arbeiterklasse vor Ausbeutung zu schützen. Es gab zwei große Strömungen: Die Kommunisten, allen voran Karl Marx, fanden, die Arbeiter müssten das System stürzen und die Kontrolle übernehmen. Die Anarchisten, wie Michail Bakunin und viele der Schweizer Uhrmacher, meinten, man müsste System und Staat komplett abschaffen. Marx forderte eine starke Führung der Arbeiterbewegung, Bakunin lehnte Autorität ab.
Als Marx 1872 ein IAA-Treffen ausrief und mehrere bekannte Anarchisten ausschloss, beriefen die einen Gegenkongress ein. Im September 1872 trafen sich Anarchistinnen und Anarchisten aus ganz Europa im Hôtel de la maison de Ville. Sie gründeten die Antiautoritäre Internationale und beschlossen einstimmig die Abschaffung aller Herrschaft.
Kein Staat, keine Herrschaft, kein Besitz
Ihr Manifest passt auf zweieinhalb A4-Seiten. Sie forderten eine Gesellschaft, in der niemand das Sagen hat; eine Welt, in der Menschen sich freiwillig und gleichberechtigt zusammenschließen und selbst über ihre Arbeit bestimmen, ohne Fabrikbesitzer, ohne Staat und ohne Besitz. Eine Gesellschaft, in der aber auch unklar blieb, wie Grundrechte gesichert oder Konflikte gerecht gelöst werden könnten.
In den 1870er-Jahren wurde die Gegend zum Zentrum der anarchistischen Bewegung. Die Juraföderation, die zu guten Zeiten 400 Mitglieder hatte, gab Zeitschriften heraus, sammelte Geld für Gleichgesinnte, organisierte Streiks und Kongresse, auf denen besprochen wurde, wie sie die wirtschaftlichen Krisen ihrer Zeit abwenden könnte. Pjotr Kropotkin, einer der bekanntesten Anarchisten, schrieb in seinen Memoiren: „Die Art, wie jeder jeden als Gleichen sah und behandelte, die ich in den jurassischen Bergen fand, die Unabhängigkeit im Denken und Ausdruck [...] sprachen meine Gefühle noch viel mehr an; und als ich die Berge nach gut einer Woche Aufenthalt bei den Uhrmachern wieder hinter mir ließ, standen meine sozialistischen Ansichten fest: Ich war ein Anarchist.“
Lange hielt die Hochzeit der Antiautoritären Internationalen nicht. Eine weitere Wirtschaftskrise traf die Uhrenindustrie, viele Mitglieder verloren ihre Arbeit. Im Oktober 1880 konferierte die Juraföderation ein letztes Mal. Manche Anarchisten wollten ihre Ziele gewaltsam erreichen und versuchten, Könige und Kaiser zu ermorden. Eines der Opfer war Kaiserin Sisi. Die meisten Mitglieder der Juraföderation machten aber in Gewerkschaften weiter.
Vor zwei Jahren trafen sich erneut Anarchistinnen und Anarchisten aus aller Welt in Saint-Imier, zum 150. Jahrestag der Antiautoritären Internationalen. Auf dem Programm: Workshops zu Abtreibungsrechten und zur Klimakrise, Kletterkurse und anarchistisches Jodeln. Oberhalb des Festivalgeländes erinnert im Dorf eine Straße an die revolutionäre Idee und ihren Anführer. Die Rue Bakounine ist eine Sackgasse.
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Illustration: Anny Peng