Die Welt wird unübersichtlicher, und größer wird damit auch das Bedürfnis nach Einordnung. Am liebsten nicht durch langatmige Erklärungen von irgendwelchen Experten, sondern durch: knackige Zahlen. Die Qualität einer Hochschule, die Korruption einer Behörde oder die Leistung einer Kaffeemaschine – all das lässt sich in Zahlen ausdrücken, in Ranglisten ordnen und in Statistiken greifbar machen. Etwa: Stimmt es wirklich, dass die Armen immer ärmer und die Reichen immer reicher werden? Im Februar dieses Jahres verkündete der Paritätische Wohlfahrtsverband, dass 12,5 Millionen Deutsche arm seien. Eine Aussage, die für ein entsprechendes Medienecho sorgte. Dabei ist die Studie ziemlich umstritten.
„Zahlen werden in der Bevölkerung als unbestechliche Argumente angesehen. Und wer gut mit Zahlen argumentiert, vermittelt Kompetenz und Sicherheit. Hinterfragt werden die zahlenlastigen Aussagen deshalb nur selten“, erklärt Helmut Scherer vom Institut für Journalistik und Kommunikationsforschung der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover. Deshalb sind Zahlen in der Politik beliebte Argumentationsstützen, wenn es darum geht, die Alternativlosigkeit des eigenen Standpunktes zu unterstreichen. Wer mit Zahlen kommt, tut dies nie ohne Hintergedanken.
Keine neue Entwicklung: Schon antike Herrscher interessierten sich für Zahlen. Die ältesten Hinweise darauf stehen auf Tonscherben aus dem antiken Babylon, die eine Volkszählung vor etwa 6.000 Jahren dokumentieren. Detailverliebt waren auch die Griechen und Römer. Neben regelmäßigen Volkszählungen gab es genaue Aufzeichnungen über Getreideeinfuhren und den Außenhandel. Und die Heerführer wussten stets, wie viele Soldaten das Reich im Kriegsfall verteidigen konnten. Erst im Mittelalter schwindet die Lust an der Statistik. Einzig Klöster und wenige Fürsten führen noch genau Buch über ihre Besitztümer. Die Urkunden aus dieser Zeit gleichen allerdings eher Beschreibungen als tatsächlichen Zählungen. Erst mit der Rückbesinnung auf antikes Wissen in der Renaissance steigt auch wieder das Interesse an Zahlen.
Vor allem die Ökonomen dieser Zeit interessieren sich für Statistiken. Die Zahlen sollen ihnen helfen, die Staatseinkünfte der Herrscher zu erhöhen und die Wirtschaft anzukurbeln. Wichtiger Vorreiter und Erfinder der „politischen Arithmetik“ ist der britische Ökonom William Petty. Um 1660 versucht er zu zeigen, dass das Vermögen eines Landes vor allem aus dem Arbeitseinkommen besteht und weniger aus dem Landbesitz. Er selbst ist nicht nur ein wacher Geist, sondern auch ein Großgrundbesitzer mit Angst vor hohen Steuern.
Seine naheliegende Empfehlung lautet deshalb, man solle möglichst wenig Steuern auf Ländereien erheben und mehr auf das Einkommen. Ein geschickter Schachzug, in der politischen Argumentation mit Zahlen vielleicht sogar ein richtungweisender, wie Gerd Bosbach, Professor für Statistik an der Fachhochschule Koblenz, erklärt: „Zahlen können die Realität schönen, wenn sie nur geschickt eingesetzt werden. Politiker oder Verbände nutzen gerne für sie passende Statistiken, um ihre Ziele durchzusetzen.“
Daten und Prognosen als politisches Instrument immer wichtiger
Doch nicht nur als Zahlendreher ist Petty zukunftsweisend. Seine Erhebung wirtschaftlicher Daten und die Erstellung von Prognosen aus ihnen wird als politisches Instrument immer wichtiger. Die kontinuierliche Weiterentwicklung der Wahrscheinlichkeitsrechnung als Wissenschaft verstärkt die Bedeutung zusätzlich. Spätestens seit Beginn des 20. Jahrhunderts sind Statistiken als Instrument zur Erfassung von gesellschaftlichen und ökonomischen „Wahrheiten“ vollends anerkannt.
Im Ersten Weltkrieg dienen beispielsweise Opferzahlen als rhetorisches Mittel, um die Gräueltaten der Gegner greifbar zu machen. In der darauf folgenden kurzen Friedenszeit bestimmt die Debatte um die Reparationszahlungen Deutschlands und ihre wirtschaftlichen Auswirkungen das politische Leben in der noch jungen Weimarer Republik. Mit düsteren Prognosen über die wirtschaftliche Entwicklung des Landes wollen vor allem die nationalistischen Kräfte um die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) die Untragbarkeit der Forderungen deutlich machen. Selbst eine Demografie-Debatte um eine alternde Gesellschaft und schlechte Geburtenraten gibt es bereits in den 1920er-Jahren.
Aus dem Zweiten Weltkrieg stammt eine der wichtigsten Kennzahlen der wirtschaftlichen Entwicklung – das Bruttoinlandsprodukt (BIP). Die Zahl wird in den USA als Index für die Wirtschaftsleistung eines Landes entwickelt und ist die Summe aller in einem bestimmten Zeitraum im Inland produzierten Waren und Dienstleistungen, gemessen an ihrem Preis. Im Krieg wird so die Leistung der eigenen Rüstungsindustrie gemessen und ihr Budget festgelegt. In Europa etabliert sich der Index nach 1945 mit dem Wiederaufbau durch amerikanische Unterstützung. Die USA ermitteln so, wie hilfsbedürftig die Empfängerländer sind. Im Kalten Krieg wird das BIP dann von der CIA benutzt, um die Wirtschaftsleistung der Sowjetunion abzuschätzen. Glaubhafte Statistiken des Gegners gibt es nicht. Längst ist da das BIP kein bloßes Informationsinstrument mehr, sondern eine Zahl, um politisches Handeln zu begründen – auch wenn sie scheinbar objektive, vermeintlich ideologie- und werturteilsfreie Wirtschaftsprozesse beschreibt.
In Deutschland etabliert sich das Bruttoinlandsprodukt als wesentliche Argumentationsgrundlage der sozialen Marktwirtschaft von Ludwig Erhard in den 50er- und 60er-Jahren. „Wirtschaftswachstum durch das Bruttoinlandsprodukt zu messen ist heute so etwas wie die heilige Kuh der Statistik und eine wichtige Grundlage für wirtschaftliche Entscheidungen“, erklärt Walter Krämer vom Institut für Wirtschafts- und Sozialstatistik an der Technischen Universität Dortmund. Die Vorteile liegen auf der Hand: Wie viele politische Kennzahlen bündelt das BIP eine hohe Informationsdichte nach transparenten Kriterien und lässt sich regelmäßig erheben. Auch wird der Index wie viele andere Kennzahlen in ganz Europa nach den gleichen Kriterien erhoben und trägt damit zur internationalen Vergleichbarkeit bei. Mit einer kleinen Einschränkung, wie Krämer ergänzt: „Es wird ein großer Ausschnitt unseres Wirtschaftsgeschehens abgebildet, aber nicht alles. Wie jede Berechnungskonvention nähert sich das Bruttoinlandsprodukt nur der Wirklichkeit an.“ Zum Beispiel sei das BIP kein guter Indikator für den Wohlstand der Menschen oder die gerechte Verteilung von Einkommen.
Das nicht Zählbare fällt oft hintenüber
Genau darin liegt eine Schwäche der Quantifizierung der Welt. Einzelne Zahlen zu finden, die ein umfassendes Bild der Wirklichkeit geben, ist äußerst schwierig. Das Zählbare steht immer im Vordergrund, das nicht Gezählte oder nicht Zählbare fällt oft hintenüber. Ein Beispiel dafür ist die Inflationsrate, ebenfalls eine wichtige Zahl für politische Debatten. Errechnet wird sie aus der Preisentwicklung des Warenkorbs einer Durchschnittsfamilie. Darin finden sich vor allem Produkte des täglichen Gebrauchs. Einziger Haken: In der Realität entspricht der Warenkorb eines Großstadt-Singles nicht dem einer Familie. Unterschiede entstehen auch durch Alter oder Einkommen. „Die Inflationsrate ist trotzdem eine sinnvolle Zahl, die monatlich mit viel Herzblut und Kompetenz vom Statistischen Bundesamt erhoben wird“, sagt Scherer. Man müsse sich eben nur ihrer Grenzen bewusst sein. Wer eine Wohnung kaufen will, für den ist die Inflationsrate kein guter Anhaltspunkt.
In gesellschaftlichen und politischen Debatten werden solche „Schwächen“ in der Aussagekraft von Zahlen und Statistiken allerdings oft übersehen. „Meistens werden weder die Zahlen noch ihre Herkunft und die Interessen dahinter wirklich in Frage gestellt“, sagt Scherer. Die Folge: Mit fragwürdigen Rankings, irreführenden Durchschnittswerten und willkürlichen Prozentangaben lässt sich die öffentliche Meinung wunderbar beeinflussen – egal ob es um die Kosten für das Gesundheitssystem, Fachkräftemangel oder Demografie geht. Doch aus Sicht des Kommunikationswissenschaftlers gibt es eine einfache Lösung: „Der Matheunterricht in der Schule muss stärker vermitteln, was Zahlen für unser Leben bedeuten. Mit geschultem Blick lassen sich Widersprüche in Statistiken schnell ausmachen.“
Birk Grüling hat Kultur-Journalismus studiert und schreibt als freier Journalist unter anderem für die Zeit, taz, jetzt.de und Spiegel Online. 2014 wurde er vom Medium Magazin unter die Top 30 der Nachwuchsjournalisten gewählt.