Eltern genießen einen immensen Vertrauensvorschuss. Sie können beinahe alles erzählen, solange die Kinder klein sind. Die werden mit glänzenden Augen selbst die größte Räuberpistole mit Begeisterung schlucken. Nette, verantwortungsbewusste Eltern werden es freilich nicht übertreiben. Sie wissen: Ein einmal erschüttertes Urvertrauen ist kaum wiederzugewinnen.

Dass es Jürgen Frank darauf angelegt hätte, das Vertrauen seiner Kinder immer wieder zu enttäuschen, kann man nicht sagen. Er tut es trotzdem, und noch viel mehr. Dieser Jürgen in dem autobiografischen Roman „So, und jetzt kommst du“ des 1971 in Kaiserlautern geborenen Journalisten Arno Frank ist schmerzhaft nah dran an Franks echtem Vater, einem notorischen, bald schon von der Polizei und Interpol gesuchten Hochstapler. 

Keine Kindheitsgeschichte in Ferkelrosa

Dass hier keine Kindheitsgeschichte in Ferkelrosa erzählt wird, ahnt man früh. Mehr wert als auf karamellsüße Anekdoten aus der pfälzischen Provinz legt Frank auf die Unsicherheiten und Alltagskatastrophen seines Ich-Erzählers, die wie ungünstige Vorboten erscheinen. Freunde hat der Junge keine, er neigt zu Pummeligkeit, Papa Jürgen hält ihn für begriffsstutzig; die kleine Schwester Jeany erscheint ihm äußerst seltsam, früh entwickelt sie einen Fetisch für verwesende Organismen.

Frank erzählt das alles mit einem pointensicheren Gespür für Situationskomik. Geschickt verschleiert oder verschleift er den bitteren Ernst mancher Begebenheit. Zum Beispiel bei der Sache mit dem so faszinierend sirrenden Heimtrainer im Keller, auf dem der Vater sich eines Abends abstrampelt: „Die feinen Linien der Kette wie parallel schwingende Striche. Ich streckte die rechte Hand aus und spürte einen einladenden Kitzel an der Handfläche. Dann griff ich zu. Natürlich griff ich zu.“ Der Vater spürt keinen Widerstand, hört „aber ein Knacken wie von trockenen Zweigen“. Der Daumen des Sohnes ist ab. Fortan ist er der Freak mit der verkrüppelten Hand.

„Es steht jeden Tag ein Dummer auf“

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So, und jetzt kommst du

Arno Frank: „So, und jetzt kommst du“, Tropen Verlag, 2017, 352 Seiten, 22,- Euro

Die „Renner“ genannten Heimtrainer sind nur eine Schnapsidee des Mannes, der „zu schlau“ war, das Abitur zu bestehen. Auf den Wehrmachts-Kübelwagen, Expandern und Wagenhebern, die er gewinnbringend an den Mann zu bringen gedenkt, bleibt er ebenfalls sitzen. Und obwohl der zu grandioser Großspurigkeit und rücksichtslosem Egoismus neigende Vater weiß, „es steht jeden Tag ein Dummer auf“, ist doch vor allem die Familie die Dumme, da ihr das Haus unterm Hintern weggepfändet wird.

Tupperware-Partys muss Mutter Jutta allerdings nicht lange veranstalten, um finanziell wieder auf die Beine zu kommen: Jürgen veruntreut 300.000 D-Mark, und ab geht’s an die Côte d’Azur, inklusive Villa, Pool, sündhaft teurer Privatschule; einen Zwerg- und einen Riesenschnauzer gibt’s obendrauf. Keine Frage: Der nicht selten wie ein Flitzebogen angespannte Jürgen hat’s gern größer, am liebsten wie die Reichen, über die er selbstverständlich schlecht redet, wenn gerade keiner von ihnen in geldgünstiger Anschleimnähe ist. Mutter Jutta, eine von Frank distanziert zärtlich gezeichnete, durchaus liebevolle, aber willensschwache Person, zieht bei sämtlichen Aktionen mit. Sie liebt ihren Mann und vertraut ihm, irgendwie. 

Eine Familie von Gespenstern

In Südfrankreich sind die Kinder nicht mehr klein, aber immer noch naiv genug, ihrem Papa zu glauben. Gleichwohl sind bereits Risse in der Behausung familiären Vertrauens zu erkennen. Nach knapp zwei Jahren ist das Geld verprasst und der Betrug fliegt auf. Spätestens an diesem Punkt weiß man: Das wird alles ganz schlimm enden. Von hieran befindet sich Familie Frank auf einer nervenaufreibenden Flucht, die auf einer Bauruine als provisorische Heimstatt in der Pampa Portugals noch lange nicht endet. So wie die an absurdes Theater erinnernden Versuche des Vaters, Geld zu beschaffen. Da ist Familie Frank längst bettelarm. „Hunger ist eine Grube im Bauch“, schreibt Arno Frank, und: „Zum Geburtstag bekomme ich ein Snickers.“ 

Unwillkürlich fragt man sich: Wie das wohl sein mag, sich solche Erlebnisse erneut ins Gedächtnis zu rufen? Packt einen die Wut, wird man furchtbar traurig? Der trockene Witz Arno Franks und seine kluge, dichte Beschreibungskunst, verfasst aus dem Blickwinkel eines leicht verwunderten Jungen, bewahren die Geschichte jedenfalls vor Sentimentalität.

Die Träume der Eltern vom großen Glück sind auf diffuse Art immer auch die Träume der Kinder – oder deren angstbesetzte Albträume. Eine Familie von Gespenstern nennt der Autor sie kurz vor Ende. Keiner nimmt mehr Notiz vom anderen. Irgendwann geht’s zurück nach Deutschland, wieder in die Gegend von Kaiserslautern, doch das Gefühl von Fremdheit ist erdrückend. „Ich gehöre nicht mehr dazu“, schreibt Arno Frank. „Ich sollte anderswo sein. Und weiß nicht, wo.“ Schließlich landet der Vater in U-Haft. Von seinem neuen Klassenzimmer kann der Teenager den Gefängnishof sehen. „Dieser Gefängnishof, in dem er nie auftaucht“, ist der letzte Eindruck von seinem Vater.

Arno Frank schreibt auch regelmäßig für fluter. Etwa über die Macht der Gene, seine Schwierigkeiten mit dem Konzept der kulturellen Aneignung oder die Frage, warum man zum IS besser Daesh sagen sollte

Titelbild: Arno Frank als Kind /privat