Als ich von einer Reise aus den indischen Gebirgsregionen zurückkam und an der Müllkippe von Ghazipur vorbeifuhr, war ich einfach nur überwältigt. Ich sah einen Müllberg, der mehr als 30 Meter hoch war, und auf dessen Spitze Menschen herumwühlten. Ich fragte mich: Wer sind die? Und warum machen die das? Armut gibt es in Indien ja überall. Egal wo man hinkommt: Man sieht erst mal Bettler und Straßenkinder. Wenn man ein bisschen länger da ist, lernt man auch viele Menschen kennen, die hart arbeiten, zum Beispiel in zerschlissener Kleidung Rikscha fahren und trotzdem kaum genug zum Leben haben.
Offiziell ist es natürlich verboten, im Müll zu wühlen. Das Geschäft der Leute besteht darin, dass sie den Müll in kleinste Einzelteile sortieren und dann an den Großhändler weiterverkaufen: Metall, Papier, Kabel, poröses Plastik, weiches Plastik, es gibt Dutzende Kategorien. Einige der Leute auf dem Berg haben sich spezialisiert. Sie stochern mit langen Stäben, an denen Magnete befestigt sind, im Müll. Umgerechnet verdienen die meisten etwa 1,50 Euro pro Tag.
Natürlich ist die Arbeit sehr gefährlich. Fast jeder hat Haut- oder Atemwegserkrankungen, überall steigen Fauldämpfe auf, keiner trägt Handschuhe. Ich habe die Müllsammler über einen Zeitraum von zwei Monaten immer wieder besucht. Oft haben wir bis zum Abend zusammengesessen und gemeinsam gegessen. Sie leben in einer Siedlung in der Nähe des Bergs, aus ihren Fundstücken haben sie sich einfache Behausungen gebaut. Wenn ich in Deutschland bin, halte ich immer wieder Vorträge an Schulen, das Programm nennt sich „Fokus Leben – Bildung durch Bilder“. Meine Fotos sehe ich als Denkanstoß, ich hoffe, dass sich Jugendliche dadurch aufgefordert fühlen, etwas aus ihrem Leben zu machen. Im Gegensatz zu vielen Indern haben sie alle Möglichkeiten dazu.
Enrico Fabian war 25 Jahre alt, als er merkte, dass er an seinem Leben etwas ändern musste. Er gab seinen sicheren Job in Deutschland auf und zog 2007 nach Indien, wo er als Fotograf zu arbeiten begann. Mittlerweile wurden seine Fotoserien international ausgezeichnet. Protokoll: Fabian Dietrich