Wenn schon obdachlos, dann im Paradies! So zumindest sieht es Brandon, ein 34-jähriger New Yorker. Er lebt schon seit einigen Jahren auf den Straßen Honolulus, Hawaiis Hauptstadt. Wie lange genau, weiß er nicht mehr. Nach der Trennung von seiner Freundin im Urlaub blieb der ehemalige Bauarbeiter kurzerhand auf der Insel und schlief ein paar Tage am Strand. Aus den Tagen wurden Jahre und inzwischen will Brandon gar nicht mehr weg von der Straße, so wohl fühlt er sich dort. "Die Leute sind nett, ich bekomme genug zu Essen und lebe dort, wo andere Menschen Urlaub machen", sagt er.

Armut und Reichtum liegen auf Hawaii nah beieinander. Etwa acht Millionen Touristen kommen im Jahr hierher, sechs Mal so viele wie hier zuhause sind. Tourismus ist die Haupteinnahmequelle des Staates, aber durch die wohlhabenden Besucher wurde die Insel auch teurer. Kleidung, Essen und Busfahrten kosten viel Geld – und neben dem Tourismus ist auch die isolierte Lage der Inselkette, mitten im Pazifischen Ozean, Schuld an den hohen Preisen. Brandon ist hier einer von rund 6.000 offiziell gezählten Obdachlosen auf Hawaii. Das "Homelessness Research Institute" spricht von 45 Obdachlosen pro 10.000 Einwohnern und damit von der höchsten pro-Kopf-Rate aller 50 US-Staaten. Nach einem Bericht der Universität Hawaii haben 2013 insgesamt etwa 14.000 Menschen Hilfsleistungen über ein Fürsorgeprogramm in Anspruch genommen, zum Beispiel Obdach oder Essen. Elf Prozent von ihnen lebten erst oder weniger als ein Jahr auf Hawaii, 42 Prozent gelten als lebenslange Bewohner des Inselstaates. Zahlen, die man mit Hawaii vielleicht nicht gleich in Verbindung gebracht hätte.

Schlafen am Strand

Der Hawaiianische Staat zahlt jedem, der keinen festen Wohnsitz hat, rund 140 US-Dollar (ca. 100 Euro) im Monat bar auf die Hand aus und vergibt Essensgutscheine für den Supermarkt. Offiziell ist Obdachlosen das Übernachten nur auf wenigen öffentlichen Flächen erlaubt. Sie halten sich aber an vielen Ecken auf und werden dort meist geduldet, vor allem in den Parks und am Strand – hier können sie das ganze Jahr über im Freien schlafen, weil es warm bleibt. Und die vielen Strände bieten auch genügend Sanitäranlagen. Wer in einem richtigen Bett schlafen möchte, kann im Tausch gegen ein bisschen Arbeit im Obdachlosenheim unterkommen, wo Ehrenamtliche regelmäßig medizinische Behandlungen anbieten. Einer dieser Ehrenamtlichen ist Justin. Der 37-jährige Akupunkteur behandelt ein Mal pro Woche Obdachlose in Wailuku auf der Insel Maui. "Meine Mutter war drogenabhängig und wurde irgendwann obdachlos. Sie ist auf der Straße gestorben. Irgendwie habe ich das Gefühl, ich bin es ihr schuldig, dass ich hier helfe." Justin, der eigentlich Texaner ist, hat im Obdachlosenheim schon einiges gesehen. "Die schlimmsten Sachen haben mich darin bestärkt, weiterzumachen. Es ist wichtig. Diese Leute haben oft niemanden, zu dem sie können. Sie sind allein."

Hang Loose

Auch Brandon hat schon solche kostenlosen Behandlungen bekommen. In Honolulu fühlt er sich aber gar nicht mal so allein. Mit einem Arm voll Essen, das er in einem Restaurant in Waikiki, Honolulus Strandviertel, bekommen hat, geht er zu seinem besten Kumpel Scott, der nur wenige Meter entfernt vom Restaurant auf der Straße sitzt. Sie hängen oft zusammen rum, manchmal gehen sie Surfen. Auf ihre Bretter sind sie besonders stolz. Die haben sie von Touristen geschenkt bekommen, die sie am Ende ihres Urlaubs nicht mit nach Hause nehmen wollten.

Scott kommt ursprünglich aus Kalifornien, wo er sich sein Leben mit Gelegenheitsjobs finanzierte und so auch das Geld für den Hawaiiflug sparen konnte. Er ist nach dem Terroranschlag am 11. September 2001 für wenige Tage in dem Inselstaat hängengeblieben, als zunächst kein ziviler Flugverkehr mehr im US-amerikanischen Flugraum stattfinden durfte. Das "Hang Loose", Hawaiis Surfer-Motto, gefiel ihm so gut, dass er kurzerhand entschied zu bleiben, ohne wirklichen Plan. So lange schon lebt er auf den Straßen Honolulus. Zurück möchte Scott nicht: "In Kalifornien hast du es als Obdachloser nicht leicht, überhaupt nicht. Da wirst du verachtet. Hier in Hawaii akzeptieren die Leute dich wenigstens", meint er.

So wie Scott und Brandon geht es vielen. Brandon meint, dass das auch mit den sinkenden Flugpreisen und der Verbreitung von Billig-Airlines zu tun hat und man nun für wenige Hundert Dollar nach Hawaii fliegen kann. Viel mehr Leute könnten sich ein Ticket leisten – so würden auch Obdachlose vom Festland kommen und bleiben. "Es hat sich auf dem Festland rumgesprochen, dass es sich hier ganz gut aushalten lässt", sagt er. Inzwischen muss der Staat viel mehr Menschen unterstützen, als es seine Sozialprogramme vorsehen. Hawaiis Regierung hat deswegen im Sommer 2013 beschlossen, ein Pilotprojekt zu starten – im wahrsten Sinne des Wortes: Jährlich will er rund 100.000 US-Dollar in One-Way-Flugtickets für Obdachlose investieren – damit sie in einen anderen Staat ihrer Wahl fliegen können.

Flugtickets als Lockmittel

Im offiziellen Bericht des Repräsentantenhauses ist die Rede davon, dass man sich auf diese Weise um das soziale Umfeld der Obdachlosen kümmern wolle und ihnen mit einem Flugticket in ihre Heimat die Möglichkeit geben wolle, sich wieder mit ihren Familien zu vereinen. So formuliert es auch John Mizuno, Demokrat und Vizesprecher des Repräsentantenhauses in diversen Zeitungsinterviews. Dieses "Return To Home"-Programm soll vor allem aber Geld sparen. Mizuno bestätigt dem forbes-Magazin: "Wenn es gelingt, 100 Obdachlose wieder mit ihren Familien zu vereinen, könnte der Staat Hawaii locker Millionen an Steuergeldern sparen." Das Programm richtet sich aber nur an solche Obdachlose, die vom Festland kommen, und es ist ein Teil einer größeren Initiative, die zum Beispiel auch Fördermittel für solche Obdachlosen zur Verfügung stellen will, die Arbeit finden und in eine Wohnung investieren wollen. Schließlich stehen Brandon und Scott nicht Exempel für alle Obdachlosen auf Hawaii – manche haben natürlich auch genug vom "Hang Loose" und würden gern Arbeit finden.

Touristen: Fluch und Segen zugleich

Für Brandon und Scott ist ein Freiflug zurücks aufs Festland keine Alternative. Zu verlockend ist für sie der traumhafte Strand, an dem sie jeden Morgen aufwachen. Und zu erschreckend ist die raue Wirklichkeit, die sich ihnen auf dem Festland bieten würde – jetzt, wo sie schon so lange raus sind aus dem Alltag dort. "Es gibt keinen Grund, das Paradies zu verlassen", sagen sie. Die Touristen in ihrem Paradies sind für Brandon Fluch und Segen zugleich: Oft kämen sie nachts an den Strand und sind dort laut, weil sie nicht wissen, dass hier Menschen schlafen. "Aber sie geben uns öfter Geld als Einheimische. Sie sind in Urlaubsstimmung, das Geld sitzt lockerer. Und sie verstehen, wieso wir auf Hawaii bleiben wollen."

*"Aloha" ist Hawaiianisch und hat viele Bedeutungen – unter anderem "Liebe" oder "nett". Aloha ist auf Hawaii allgegenwärtig, und man ist stolz darauf.

Links

Die Deutsche Welle über ein Projekt im Westen O'ahus für arme und obdachlose Jugendliche.
Planet Wissen zum Grundwissen über Hawaii.
Erlebnisbericht einer Reisebloggerin mit einem Obdachlosen in Hawaii.
Die Welt zu einem Bildband über Obdachlose in den USA.
Englischsprachiger Zeitungsartikel zum Thema in der Washington Times.
Zeitungsartikel zum Thema in der New York Times.