Früher dachte ich, alles über die Vergangenheit meiner Großeltern zu wissen. Schon in der Grundschule habe ich nämlich gelernt, ihnen die richtigen Fragen zu stellen: Was wusstest du von den Verbrechen im Dritten Reich? Was hast du getan? Was hast du nicht getan? Wart ihr auch Nazis? So erfuhr ich, dass zumindest keiner meiner Großväter ein Nazi-Funktionär oder Partei-Mitläufer war. Der Ältere war bei Kriegsende auch erst 13. Sie hatten ihre Kindheit auf Bauernhöfen verbracht, das war alles.
War es natürlich nicht. Dass beide Großväter Vertriebene waren, ist mir erst später klar geworden. Sie gehörten zu den Millionen Deutschen, die in den damaligen deutschen Gebieten östlich der Oder oder als Minderheiten in den Ländern Ost-, Mittel- und Südosteuropas gelebt hatten, in Rumänien etwa oder in der damaligen Tschechoslowakei. Seit sich die Niederlage der Deutschen abzeichnete, ergriffen bis etwa 1950 rund 14 Millionen Menschen die Flucht, jeder sechste überlebte sie nicht. Die anderen fanden eine neue Heimat – allein zwei Millionen in Bayern, etwa ebenso viele in Niedersachsen. Es sind auch jene Vertriebenen, unter denen immer wieder Ewiggestrige auffielen, die revisionistisch dachten und die alten Gebiete zurück wollten. Die nicht verstanden, dass ihre Vertreibung ein Echo auf das Leid war, das das Deutsche Reich und einzelne Deutsche, vielleicht sogar sie selbst eingeschlossen, verursacht hatten.
Als mein Opa Georg schon tot war, hatten wir uns einmal im großelterlichen Wohnzimmer über meinen damaligen türkischen Freund unterhalten. „Georg hat selbst immer gemeint, dass er ‚der Türke von gestern‘ sei“, sagte mein Vater schmunzelnd zu mir. Der Türke von gestern? „Na, ein typischer Einwanderer, meinte er.“ Und wie viele Einwanderer habe es auch Georg anfangs in Deutschland nicht leicht gehabt und mit Vorurteilen gekämpft.
Erst dann habe ich begriffen, wo Georgs unspektakuläre Hofkindheit wirklich stattfand: nicht im heutigen Bundesgebiet. Sondern in Galizien – einem Gebiet, das in Polen und der Ukraine liegt. Im deutsch-sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrag von 1939 wurde Galizien schon vor Beginn des Zweiten Weltkriegs zwischen Hitler und Stalin aufgeteilt. In diesem Vertrag war auch die Umsiedlung der dort lebenden Deutschen geregelt. Dies war das erste Mal, dass Georg und seine Familie flüchteten. Es ging Richtung Oberschlesien, damals war mein Opa sechs Jahre alt. Lange blieben sie nicht. Infolge des Potsdamer Abkommens vom 2. August 1945 musste das Deutsche Reich nämlich auch seine Gebiete östlich von Oder und Neiße an Polen und die Sowjetunion abtreten. Georg und seine Familie flohen mit dem Pferdegespann erst nach Österreich und einige Jahre später nach Deutschland.
Solche Geschichten könnte man in vielen deutschen Familien hören, wenn man denn nachfragt. Die Oma eines Bekannten kommt aus Schlesien und hat heute immer noch eine Kugel im Arm. Ich habe den Eindruck, dass wenig über die Vertreibungen gesprochen wird – vermutlich, weil sie den Bei- geschmack haben, NS-Verbrechen zu relativieren. Doch wenn man die Fluchterfahrung als solche nimmt, dann könnten viele Menschen vielleicht leichter verstehen, wie es Flüchtlingen heute ergeht. Und wir könnten gelassener darüber nachdenken, wie Gesellschaften Menschen auf der Flucht aufnehmen können.
Ein Wagen kam auch in Opa Erwins Geschichten von früher vor. Dieser Wagen wurde vom Hofhund Waldo gezogen, bepackt mit allem, was die Familie noch hatte. Erwin erzählte von seiner Flucht aus der Neumark Brandenburg, die heute in Polen liegt, wie von einem lustigen Abenteuer: Anekdoten von seinem treuen Schäferhund Waldo und dem Leben auf dem Hof mit fünf Morgen Ackerland, einer Kuh und vier Schweinen – gar nicht so weit von Berlin. Die nicht so lustige Geschichte von seinem Onkel Willi, der mit anderen lokalen Nazi-Größen von den Sowjets auf einer Kneipen-Kegelbahn erschossen wurde, erfuhr ich erst, als ich mich neulich mit ihm an den Tisch setzte. Opa Erwin erzählte das ganz sachlich; dass Nazis in seinem Dorf erschossen wurden, war für ihn einfach eine logische Schlussfolgerung.
Opa Erwin war gut vorbereitet auf unser Gespräch. Er brachte Karten mit, Ausgaben eines Magazins namens „Heimatblatt“, Fotos, Urkunden. „Da“, sagte er und zeigte auf ein paar Schraffuren mitten im Nichts, „da war unser Hof.“ In einem Dorf namens Seidlitz bei Landsberg an der Warthe, schon seit Jahrzehnten heißt der Ort in Polen nun Gorzów Wielkopolski. Dort lebte er mit seinem Vater, der schon im Ersten Weltkrieg gedient hatte und aufgrund seines Alters im Zweiten nicht eingezogen wurde, seiner Mutter und seinem älteren Bruder.
Als Opa Erwin 13 war, änderte sich alles. Zuerst kamen im bitterkalten Winter 1944 die Menschen, die aus dem noch ferneren Osten vor dem Krieg und vor der Roten Armee flohen. Nicht ganz zu Unrecht hatten die Menschen Angst, dass sich die vorrückenden sowjetischen Soldaten für die Untaten der deutschen Soldaten und SS-Männer rächen würden. Überfüllte Züge rollten in die Bahnhöfe, Pferdetrecks verstopften die Straßen.
„Der Schnee lag meterhoch. Die toten Kinder und Großeltern, die erfroren waren, haben sie einfach hingelegt und sind weitergefahren“, erzählte er mir. „Wir konnten von uns aus sehen, wie Landsberg brannte“, sagte Erwin. Ein paar seiner Tanten, darunter auch jene, deren Mann Willi mit anderen Nazis erschossen worden war, flohen nach Seidlitz zu ihnen auf den Hof.
Nur zwei Mal während unserer Unterhaltung wirkte Erwin mitgenommen: Einmal, als er von der letzten Begegnung mit seinem Vater erzählte, der erst von den Sowjets zum Arbei- ten eingezogen und dann in die Sowjetunion deportiert wurde. „Von den Nazis sind später welche zurückgekommen, aber meinen Vater, der nicht mal Soldat und sogar gegen Hitler war, habe ich nie wiedergesehen.“ Das andere Mal, als er von der völlig zerstörten Stadt Küstrin berichtete, heute Kostrzyn nad Odr̨a, die sie auf der Flucht durchquerten. „Da stand kein Haus, kein Stein mehr. Ab und zu sah ich einen Arm herumliegen.“
An einem Maimorgen 1945, bei Kriegsende, standen dann zwei polnische Soldaten vor der Tür. „In zwei Stunden mussten wir raus sein. Und wohin? Hinter die Oder.“ Nachbarn, die Jahre nicht mehr miteinander gesprochen hatten, fanden sich in einem Treck zusammen. Handwagen an Handwagen. Erwins Gruppe hatte Glück und schlug sich rund 150 Kilometer über Küstrin bis nach Berlin-Weißensee durch. Seine Familie fand schließlich Verwandtschaft im zerbombten Neukölln, doch als es dort weder Essen noch Perspektiven gab, zogen sie in eine Kleinstadt nach Brandenburg weiter. Dort fanden sie schließlich Arbeit. Nur der Hund hatte Pech: Waldo tauschten sie unterwegs gegen sieben Brote ein.
Die Charta der deutschen Heimatvertriebenen vom 5. August 1950 legt „Pflichten und Rechte“ fest; vor allem den Verzicht auf Rache und Vergeltung für die Vertreibung, aber auch das „Recht auf Heimat“. Erst in diesem März hat die Landsmannschaft der Sudetendeutschen den Anspruch auf „Rückgabe der Heimat“ und beschlagnahmtes Eigentum aufgegeben. „Ich fand es nicht richtig, dass alles so plötzlich kam, das hätten sie anders machen können. Der Krieg war vorbei“, sagte Opa Erwin. „Aber Deutschland hat den Krieg angefangen. Die Schuldigen sind wir, und wir mussten deswegen leiden. Das war so. Ohne den Krieg hätte es keine Flüchtlinge gegeben. Und ohne Verbrechen keine Gegenverbrechen. Ohne den Krieg hätten wir weiter in Seidlitz gewohnt.“
Vor ein paar Jahren war Opa Erwin noch einmal dort. Die Kirche im Dorf sieht noch genauso aus wie damals. Er hat sich auch das Land angesehen, auf dem früher der Hof war und heute ein paar Häuser stehen. Vielleicht wäre er zurückgekehrt, wenn er gekonnt hätte. „Aber das Leben ging weiter“, sagt er, „ich baute mir woanders etwas auf.“
Mein Opa hat eine Heimat verloren und eine neue gefunden. Und eine neue Heimat zu finden, kann man eigentlich nur jedem Flüchtling wünschen.
Fotos: Arthur Grimm/bpk, Vinzenz Engel/bpk