Schön künstlich - Der Ökologe Hansjörg Küster über Natur − und das, was wir dafür halten.

Fluter: Herr Küster, Sie schreiben gerade ein neues Buch und sind dafür in den Schwarzwald gefahren. Warum?

Hansjörg Küster: Ich fahre immer hierher, um Bücher zu schreiben, manchmal auch an die Ostsee. Das hat was mit der Natur zu tun und auch damit, dass ich hier kein Internet habe und nur wenige Leute meine Telefonnummer kennen.

Wenn wir „Schwarzwald“ sagen, meinen wir dabei die Natur oder nur unsere Vorstellung davon?

Es ist schwierig zu sagen, was genau Natur ist. Meistens ist damit eine Landschaft gemeint, eine Vorstellung, die man im Kopf hat. Merkwürdig ist dabei: Das Abbild, das wir uns machen, scheint immer stabil zu sein. Natur selbst verändert sich aber ständig, sie ist dynamisch, Pflanzen und Tiere sterben ab, alles wächst, entsteht und wandelt sich.

Woher kommt dieses Abbild in unseren Köpfen?

Ich sehe oft in alten Büchern nach, um dieser Sache nachzugehen. Ich habe kürzlich einen Aufsatz gefunden von einem Freund des Philosophen Jean-Jacques Rousseau, der im 18. Jahrhundert in die Lüneburger Heide kommt und sagt: Das ist die jungfräuliche Natur. Und das ist dann später x-mal ab-geschrieben worden. Heute halten wir die Lüneburger Heide für Natur, weil wir sie schön finden.

Aber die Lüneburger Heide ist doch naturbelassen - oder nicht? 

In der Lüneburger Heide wird ein kluges Management gemacht. Dazu gehört eben: Man muss Flächen auch mal abbrennen, damit sie auf Dauer so bleiben, wie sie sind. Sonst würden irgendwann Bäume wachsen, Heidepflanzen und andere Pflanzen bekämen kein Licht mehr. Die Naturschützer sagen aber: Wir können das nur dort machen, wo die Besucher es nicht mitbekommen. Sonst würde es einen Aufschrei geben. 

Wir wollen also nicht, dass die Natur sich ändert?

Wir wissen, unser Leben ist endlich, aber wir möchten, dass die Natur um uns herum so bleibt, wie sie ist. Das ist natürlich eine Illusion. Nehmen wir zum Beispiel einen See. Der kann sehr leicht zu einem Moor werden, ganz ohne menschliches Zutun. Aus einem Moor kann aber nie wieder ein See werden. Das heißt: Natürliche Prozesse sind irreversibel. Und wenn man will, dass etwa der Wald stabil bleibt, dann muss der Mensch etwas dafür tun. Der Wald macht das nicht selbst.

Der Wald hat ja eine große Lobby.

Naturschützer schützen aber oft nur ein Abbild der Natur, das wir schön finden. Schützen müssen wir die Natur aber in zweierlei Hinsicht: erstens vor Investoren, die planen, etwas kaputt zu machen, und zweitens müssen wir auch die Natur selbst vor dem Wandel bewahren.

Warum ist es denn für uns so schwierig zu verstehen, dass sich die Natur ständig ändert?

Stabilität ist von jeher der größte Antrieb, seitdem die Menschen mit Ackerbau begonnen haben. Wir denken, es bleibt schon alles stabil. Dabei gibt es so etwas wie Stabilität, wie ein „ökologisches Gleichgewicht“ gar nicht, das ist eine Utopie. In unserer Wahrnehmung ist eine Fichte immer eine Fichte, ein Veilchen immer ein Veilchen und eine Amsel immer eine Amsel. Und wir sehen sie immer in einer gleichen Funktion. Wir übersehen dabei aber, dass das alles Individuen sind, die irgendetwas besser können als andere, die andere Fähigkeiten haben. Die Evolution sorgt dafür, dass immer wieder neue Individuen auftauchen und andere verschwinden. Das ist für die Natur nicht schlimm, das ist ökologische Grundlage. Es ist jedes Jahr eine andere Amsel, ein anderes Veilchen und eine andere Fichte, die mal blüht und mal nicht blüht.

In die Evolution einzugreifen ist, so gesehen, also unnatürlich?

Das ist es vielleicht. Auf der anderen Seite geht es ja um einen kulturellen Wert.

Das heißt, wir betreiben Naturschutz nicht für die Natur, sondern für uns selbst?

Es geht um unsere kulturelle Stabilität. Wie wir uns für eine alte Kirche einsetzen, so können wir uns auch für den Sibirischen Tiger einsetzen. Und das ist nicht unbedingt etwas anderes. Eine Welt ohne den Sibirischen Tiger oder ohne seltene Orchideen ist eine kulturell ärmere Welt. Und wenn wir bei Eingriffen in die Natur etwas zerstören, sollten wir immer daran denken, dass unser Eingriff meist nur einen kulturellen Einfluss des Menschen zerstört, der vorher schon lange bestand.

Der Wald hat sich durch unseren kulturellen Einfluss zu dem entwickelt, was er jetzt ist. Warum sollten wir ihn bewahren?

Er sorgt zum Beispiel für einen hohen Grundwasserspiegel und für ein ausgeglichenes Klima. Er ist ein Wasserspeicher. Rodet man den Wald, gehen die Niederschläge zurück und das Land trocknet aus. Meiner Meinung nach sollten wir mehr aufforsten, denn der Wald muss in Zukunft wahrscheinlich wieder stärker als Ressource herangezogen werden. Ich denke, dass wir bald wieder viel mehr Holz aus heimischen Wäldern brauchen werden, um damit zu heizen.

Jetzt werden viele Naturschützer aufschreien…

Wir sind uns doch alle einig: Wir wollen heizen. Aber womit? Nehmen wir Öl, Atomstrom - oder Holz aus unseren Wäldern? Im Mittelalter wurde das auch schon gemacht, damals wurde zu viel abgeholzt, und es wuchs zu wenig nach. Von diesem Experiment wissen wir: Das eigene Holz allein wird niemals reichen, aber es könnte viel mehr zur Wärmegewinnung beitragen.

In Ihren Büchern versuchen Sie immer wieder, mit überkommenen Vorstellungen aufzuräumen. Sie sagen, der Mensch stammt nicht vom Affen ab, es gibt nur gemeinsame Vorfahren. Und Sie sagen auch, es lasse sich nicht beweisen, dass der Klimawandel menschengemacht ist.

Das lässt sich bis heute auch nicht hundertprozentig beweisen. Es ist vielleicht etwas offensichtlicher geworden, weil wir merken, das Wetter ändert sich. Daher glauben nun auch mehr Menschen daran. Die Erdoberfläche hat sich in den vergangenen Jahrtausenden immer wieder erwärmt, ohne dass dafür Treibhausgase verantwortlich waren. Ob diesmal wirklich die Treibhausgase schuld sind, ist letztlich nicht zu beweisen. Wenn man die Prognosen und tatsächlichen Entwicklungen der letzten Jahrhunderte vergleicht, sieht man, dass Modellrechnungen nie als Vorwegnahme von Realität zu verstehen sind. Die Aussage, dass die Temperatur bis zum Jahr 2100 um fünf Grad ansteigen wird, ist so oder so bedrohlich. Allerdings muss es dadurch nicht zu kompletten Veränderungen von Ökosystemen kommen. Gebiete wie die Lüneburger Heide gibt es auch jetzt schon in Westportugal oder in Skandinavien.

Macht es also mehr Sinn, einzelne Ökosysteme zu unterstützen, anstatt lange über CO2-Emissionen zu streiten?

Ich habe kürzlich einen Vortrag eines jungen Professors aus Peking gehört, der gesagt hat: Je mehr CO2 in die Luft geblasen wird, desto mehr profitiert davon die Vegetation in den Steppen Westchinas. Wenn dort mehr wächst, können Staubstürme verhindert werden, die eine große Gefahr für Städte wie Shanghai sind. Da denkt man sich: Um Gottes willen, wir werden uns bei der Diskussion um CO2-Emissionen niemals einigen. Entscheidend ist deshalb, dass wir weniger Benzin, weniger Öl und weniger Kohle verbrauchen, ganz einfach weil diese Rohstoffe irgendwann zur Neige gehen werden. Dass diese Ressourcen zur Neige gehen, das ist die wesentlich größere Bedrohung.

Was können wir tun?

Zunächst einmal müssen wir nachhaltig wirtschaften, wo es möglich ist, beim Holz etwa. Weil aber die meisten Rohstoffe nicht nachwachsen, hoffe ich, dass es möglich sein wird, mehr auf regenerative Ressourcen bei der Energiegewinnung zu setzen.

Besteht also ein Widerspruch zwischen Natur und unserer klassischen Industrie?

Ende des 19. Jahrhunderts haben wir begonnen, Natur bewusst wahrzunehmen, sie war ein Gegenentwurf zur Industrialisierung. Aber Industrialisierung kann selbst zu neuen Standorten beitragen. Es ist zum Beispiel zur Ausbreitung von Pflanzen- und Tierarten entlang des Nord-Ostsee-Kanals gekommen. Mit einem Eisenbahndamm hat man auch immer einen neuen Standort geschaffen, weil dort neue Pflanzen wachsen, die es ansonsten nicht gäbe.

Heißt das dann aber auch, dass wir nicht sofort aufschreien müssen, wenn irgendwo eine neue Autobahn oder eine neue Fabrik gebaut wird?

Für solch einen Aufschrei kann es gute Gründe geben. Aber viel wesentlicher ist, dass jeder von sich aus etwas tut. Das ist nämlich heute nicht mehr weit verbreitet. Man schiebt das immer den Politikern zu. Ich habe es mal miterlebt, als Kinder Politikern Forderungen vorgetragen haben, Dinge wie: Man müsste endlich mal das Meer sauber machen. Die Politiker hatten darauf lediglich die Antwort: Das kostet aber Geld. Anstatt den Kindern zu sagen: Dann passt ihr aber auch auf, dass ihr da keine alten Flaschen reinschmeißt! Jeder von uns muss Verantwortung übernehmen. Verantwortung ist wichtig, hier kann noch viel getan werden.

Was schlagen Sie vor?

Zunächst müsste man viel mehr beobachten, wie der Wandel in der Natur eigentlich 
abläuft. Das können auch Jugendliche tun, in- dem sie zum Beispiel jedes Jahr aufschreiben welche Vögel da sind, welche Pflanzen wann blühen und solche Dinge. Das Wissen über Natur sollte nicht allein über Medien verbreitet werden. Erst durch die Erfahrung der Natur selbst entstehen Emotionen, und diese Emotionen sind wichtig. Denn nur wenn uns die Natur nicht egal ist, werden wir immer bereit sein, uns für sie einzusetzen.

Hansjörg Küster ist Professor für Pflanzenökologie am Institut für Geobotanik an der Leibniz Universität Hannover. Im Jahr 2005 erschien sein Buch »Das ist Ökologie«. (C.H. Beck)