Niemand sollte hinterher sagen können, er sei nicht gehört worden: Das zuständige Ministerium in Stuttgart schrieb alle 120.000 Haushalte der Region an und informierte über das Vorhaben. Es gab geführte Wanderungen durch die Region, ein Info-Telefon und einen Kummerkasten. Es wurden Anregungen aller Art gesammelt, die in die Beratungen der regionalen Arbeitskreise eingingen, die wiederum aus Einwohnern gebildet worden waren. Die Sitzungsprotokolle wurden online gestellt, angeschlossen an eine Internetplattform zum Meinungsaustausch. Schließlich gab es ein Gutachten über die Auswirkungen des Projekts für die Region, in Auftrag gegeben von den gewählten Vertretern der betroffenen Kreise. Das Ergebnis des Gutachtens wurde vor Ort präsentiert und mit den Bürgern diskutiert. Schließlich, nach zwei Jahren der Bürgerbeteiligung, haben 50.000 Einwohner abgestimmt. Über ein Projekt, das die Bürger so früh und so intensiv in die Planungen einbezogen hatte, wie es noch nie zuvor bei einem Großprojekt in Baden-Württemberg geschehen war. Doch offenbar war alles umsonst: In den betroffenen Gemeinden reichte die Ablehnung im Mai dieses Jahres von 64 bis zu 87 Prozent der Stimmen. Es war nicht mal knapp. Der Nationalpark Nordschwarzwald war bei den Bürgern durchgefallen.
Und trotzdem: Das Projekt war ein Erfolg. Denn obwohl sich die Fronten zwischen Park-Gegnern und Park-Befürwortern verhärteten, gab es keine Straßenschlachten, war keine Mediation vonnöten, gab es kein Stuttgart 21 im Wald. Beim Umbau des Stuttgarter Hauptbahnhofs hatten die Medien einen neuen Politikerschreck ausgemacht: den Wutbürger, der große Infrastrukturmaßnahmen nicht einfach hinnimmt, sondern mitreden will. Damals hatte der ehemalige Bundesminister Heiner Geißler die Vermittlung zwischen Bürgern und Politik übernommen und diese Mediation als „Innovation“ und „neuen Weg“ beschrieben. Zum ersten Mal sei es gelungen, „alle handelnden Parteien an einen Tisch zu bekommen, und zwar auf Augenhöhe“. Aber sollte das nicht längst selbstverständlich sein?
Medien haben den „Wutbürger“ entdeckt: ein doofes Wort für eine gute Sache
„Projekte der Verwaltung bedürfen der ständigen Erklärung und Begründung“, sagt Cynthia Wagner von „Nexthamburg“, einer Bürger-Ideenplattform für Stadtentwicklung, die schon im frühen Stadium eine Beteiligung der Bürger fördern will. Laut Webseite gibt man „Ideen, Meinungen und Wünschen von Bürgern eine Bühne und sorgt dafür, dass sie … gehört werden.“ Zuerst sollen die Menschen gefragt werden: Was vermissen sie in ihrer Gegend? Was wollen sie überhaupt? Wie stellen sie sich die Stadt in 20 Jahren vor? Die gesammelten Ideen werden dann anderen Teilnehmern zur Diskussion vorgestellt, zum Thema werden Experten eingeladen und Studien erstellt. „Dann erst sprechen wir mit der Verwaltung“, sagt Wagner. Dabei sei der Einfluss der Bürger immer konstruktiv. „Oft benötigt man einfach eine Übersetzung des Plans der Ingenieure in die Sprache der Bürger und umgekehrt.“ Das Bau- und Planungsrecht erfülle einfach nicht mehr die Ansprüche einer modernen Gesellschaft.
Tatsächlich sehen viele Menschen im monatelangen stillen Aushängen von Bauplänen in Rathäusern weniger eine demokratische Teilhabe, sondern vielmehr die Herstellung der Rechtssicherheit der Pläne. Und galt eine gewonnene Wahl früher als Legitimation für so ziemlich alles und Protest, von wenigen Ausnahmen abgesehen, als Randphänomen, haben bis zum Frühsommer 2010 knapp 42.000 Bürger allein gegen den Bau der dritten Startbahn auf dem Flughafen München Einspruch erhoben. Vor Kurzem haben sie diesen auch per Bürgerentscheid abgelehnt, 17 Klagen gegen den Bau liegen vor Gericht.
„Das Wichtigste ist Transparenz“, sagt auch Klaus Grewe. Der deutsche Projektmanager koordinierte die Gesamtplanung der Olympischen Spiele in London 2012. Er sagt: „Grundsätzlich müssen Großprojekte lange und konzentriert vorgedacht werden.“ Dabei müsse man aber den Mut haben, alles zu kommunizieren. „Auch wenn es nicht so klappt, wie es geplant war.“ Die Bürger müssten von Anbeginn an Projekten beteiligt und ernst genommen werden. Durch diesen simplen Ansatz hat Grewe eine enorme Akzeptanz in der Bevölkerung geschaffen – obwohl die Olympiade die Briten mehr als neun Milliarden Pfund gekostet und viele Monate Baulärm verursacht hat.
Auch andernorts macht man sich Gedanken, wie öffentliche Vorhaben mehr Zuspruch finden können. Unter dem Namen „LiquidFriesland“ hat der Landkreis Friesland im östlichen Niedersachsen eine Beteiligungsplattform im Web geschaffen, über die jeder Bürger Vorschläge machen kann, die dann zur Diskussion und zur Abstimmung stehen – zu Themen, bei denen der Landkreis zuständig ist, wie zum Beispiel der Bau von Radwegen oder die Errichtung von Parkanlagen. Der Kreistag hat sich dazu verpflichtet, über jeden Vorschlag, der eine Abstimmung gewonnen hat, zu beraten.
Die Abstimmungen müssen gar nicht bindend sein, aber für die Menschen ist es ein gutes Gefühl, gehört zu werden
„Bürgerbeteiligung kann nur erfolgreich sein, wenn ein tatsächlicher Einfluss auf Pläne und Projekte spürbar wird“, sagt Sven Ambrosy, Landrat und Erfinder der Plattform. 700 Bürger zeigen bisher online Interesse für die Kreispolitik, zu öffentlichen Sitzungen kommen weitaus weniger Menschen. „Jeweils nur zwei oder drei“, sagt Sönke Klug, Pressesprecher des Landkreises – und diese Möglichkeit besteht schon seit Jahrzehnten und nicht erst seit wenigen Monaten. Ziel von LiquidFriesland sei es, die Themen und Vorhaben so verständlich wie möglich zu kommunizieren – und das ginge eben nicht mit Aushängen im Rathaus und Erläuterungen im Behördensprech, die keiner versteht.
Dabei ist LiquidFriesland nur ein zusätzlicher Kanal der Bürgerbeteiligung. Die Plattform ersetzt nicht die Abstimmung im Kreistag – schließlich ist der von den immerhin rund 100.000 Einwohnern des Kreises demokratisch legitimiert, was für eine Online-Plattform mit ein paar hundert Nutzern nicht unbedingt gilt. Über das Ergebnis der Abstimmung im Kreistag werden die Bürger ebenfalls im Internet informiert.
Und die kann dann eben auch anders ausfallen als von den Bürgern gewünscht, wie es im Falle des Nationalparks Nordschwarzwald zu sein scheint. Denn das dortige Ergebnis der Bürgerbefragung gegen den Nationalpark ist rechtlich nicht verpflichtend. Der zuständige Minister Alexander Bonde sagt auch nur, dass er das Ergebnis der Befragung „sehr ernst“ nehme, es sich dabei aber nur um ein „unverbindliches Meinungsbild“ handle, das für die Entscheidung letztlich „nicht bindend“ sei. Im Herbst findet die Abstimmung im Landtag statt und es ist wahrscheinlich, dass die rot-grüne Mehrheit für den Park stimmt.
Und so steht das Projekt „Nationalpark Nordschwarzwald“ stellvertretend für viele andere große Projekte in Deutschland, egal ob Bahnhöfe, Stromtrassen, Windräder oder Flughäfen. Jedes dieser Vorhaben muss sich immer wieder neu demokratisch legitimieren – nicht unbedingt durch Plebiszite, aber durch Information und Aufklärung der Bevölkerung. „Ich bin nicht dafür, dass alles nur noch im Internet abgestimmt wird“, sagt Ambrosy. Dafür habe man die repräsentative Demokratie. „Aber es ist schon allein ein himmelweiter Unterschied, ob ich als Bürger das Gefühl habe, dass meine Meinung gehört und wertgeschätzt wird, oder ob ich das Gefühl habe, dass sie in ein schwarzes Loch fällt.“