Das eine Russland gibt es nicht, schreibt der russische Journalist und Autor Arkadi Babtschenko. Es gibt Dutzende verschiedener Russlands – das bäuerliche, das Rentner-, Lehrer-, Obdachlosen-, Knast-, Armuts-, Wohlstands-, Manager-, Top-Manager-, Oligarchen-Russland.
In diesem zersplitterten Land seien die Veteranen, so schreibt Babtschenko, eines der isoliertesten Völker. Verwundet, verkrüppelt, oft verarmt und verloren. Veteranen, die im Zweiten Weltkrieg gekämpft haben, in Russland der „Große Vaterländische Krieg“ genannt, oder in Afghanistan in den 80er-Jahren, in Tschetschenien in den 90er-Jahren, in Georgien 2008. Wenn die russischen Veteranen eine Stimme haben, dann ist es seine: die junge Stimme von Arkadi Babtschenko. Eine Stimme von großer Sprachgewalt und Präzision, von journalistischer Akribie und Mitgefühl.
Arkadi Babtschenko, 1977 in Moskau geboren, geriet mit 18 Jahren als Wehrdienstleistender in die Wirren des Tschetschenienkriegs. Nach seiner Rückkehr studierte er in Moskau Jura und wurde Journalist bei der „Nowaja Gaseta“, einer der wenigen kritischen Oppositionszeitungen, für die auch Anna Politkowskaja bis zu ihrer Ermordung schrieb.
In seinen Texten bewegt sich Babtschenko zwischen Literatur und Journalismus, verbindet Wahrheitsanspruch und Erzählwillen. Er schreibt, was er sieht. Zum Beispiel 2008, wie er als Journalist den Krieg zwischen Russland und Georgien um Südossetien miterlebte.
Babtschenko beschreibt die Opfer des Krieges in schonungsloser Nahaufnahme: Der getötete Georgier ist noch immer nicht verbrannt – die Leiche liegt weiter an der Kurve. Die Bauchmuskeln sind durchgebrannt, und aus der Leiste ragt ein Knäuel verschmorter gelber Gedärme hervor.
Er gibt wieder, wie ihn ein Pressesekretär der russischen Armee in Südossetien begrüßt: „Woher?“ – „Von der Nowaja Gaseta.“ – „Oh, die kennen wir. Wieder die Armee mit Scheiße übergießen, was? Was wirst du schreiben?“ – „Keine Ahnung. Ich werde schreiben, was ich sehe.“
Er schildert, wie er abstumpft: Ich stelle mich auf den Bordstein und fotografiere in Großaufnahme. Mit Augenhöhlen und allen Einzelheiten. Rotes, angebranntes Fleisch kriecht ins Objektiv. Empfindungen? Absolut keine. Wie schnell sind alle moralischen Verbote in mir abgestumpft. Das ist das Abscheulichste – dass man den Tod wie einen Job betrachtet.
In „Ein Tag wie ein Leben“, seinem neuesten Buch, schlägt Babtschenko einen hundert Jahre umfassenden Bogen von den jüngeren bis zu den älteren Kriegen Russlands – mit Umwegen über den Irakkrieg der USA, über Abu Ghraib, über die Folterpraxis der CIA. Das ist das Überzeugende an seiner Perspektive: Babtschenko ist auf keiner Seite – außer auf der Seite der Versehrten. Mal nah dran, als Kriegsberichterstatter oder Porträtautor, mal aus der Halbdistanz, als Protokollant vom Krieg zerstörter Schicksale, mal im Rückblick, fast als Historiker.
Und egal wohin Babtschenko geht, der Krieg ist schon dort. Er sieht ihn, besser als andere. Weil er ihn selbst erlebt hat. Er trifft ihn in einer Moskauer Metrostration, in Gestalt von drei verlorenen Veteranen: Auf diese drei kommen fünf Medaillen, sechs Krücken, zwei Prothesen und ein einziges Bein.
Er hört den Krieg in der Wut eines Veteranen, der sich von seinen Mitbürgern alleingelassen fühlt: Ihr Land führt Krieg, und sie scheißen darauf! Dann scheiße ich auch auf sie. Nicht einer von ihnen soll sterben, ohne erfahren zu haben, was Krieg ist. Ich will, dass auch sie in den Nächten schreien und im Schlaf weinen und dass sie unters Bett kriechen, wenn auf dem Hof ein Silvesterknaller explodiert, und vor Angst winseln, so wie wir gewinselt haben.
Für manchen Leser mag die Art und Weise überraschend sein, mit der Babtschenko gegen den Krieg anschreibt. Es ist nicht die klassisch pazifistische Perspektive mit bunter Fahne und Friedenstaube in der Hand. Babtschenko bedient sich militärischen Vokabulars und lässt, ganz selten, auch mal einen Windstoß von kriegerischem Abenteuer und Heldentum durch seine Zeilen wehen.
Sein Pazifismus ist ein pragmatischer, ein Pazifismus eines ehemaligen Soldaten, der auf der einen Seite stumpf vom Krieg ist, auf der anderen Seite aber bis zu Heulkrämpfen, bis zur Verzweiflung empfindsam und sensibel. Babtschenko ist „embedded“ im besten Sinne: eingebettet in die körperlichen und seelischen Nöte der Kriegsversehrten.
Und so besteht sein Pazifismus auch manchmal darin, die schlechte Ausrüstung der russischen Armee anzuprangern, so fragt er in „Ein Tag wie ein Leben“: Wo ist der BTR-90, wo der Panzer „Schwarzer Adler“, wo der Hubschrauber „Schwarzer Hai“, wo der Jagdpanzer „Berkut“, wo der BMD-4, wo der „Tiger“, wo der „Schiffer“, wo der „Msta-S“, mit denen ihr auf den Paraden so angebt?
Sein Urteil über das heutige Russland unter Wladimir Putin: Immer noch das gleiche große Imperium mit einer viehischen Einstellung zu den eigenen Menschen. Arkadi Babtschenkos Offenheit bleibt nicht ohne Folgen. Im vergangenen Jahr berichtet er in einem Interview, dass er wegen seiner Tätigkeit als Journalist in drei Strafprozesse verwickelt sei, dass man ihn beschatte und er, wenn er das Haus verlässt, sich mitunter eine kugelsichere Weste anlege.
Bei seiner Arbeit, sagt er, gehe es nicht um Interpretation. Es gehe darum, so tief wie möglich in den Dreck hineinzukriechen, wieder herauszukriechen und danach einen Text zu schreiben. Man müsse die Dinge selbst sehen.