Worum geht’s?
Nur knapp überlebt Francis die Fahrt übers Mittelmeer, während seine Freundin Ida ertrinkt. Er strandet schließlich in Berlin. Ohne Papiere sind die Perspektiven in Deutschland für den jungen Mann aus Guinea-Bissau schlecht. Er will rechtschaffen sein, aber auch ein menschenwürdiges Leben führen. Nach schlechten Jobs auf der Baustelle lässt sich Francis zu kriminellen Geschäften verführen: Ein Typ namens Reinhold kontrolliert den Drogenhandel in der Neuköllner Hasenheide und macht ihn zu seiner rechten Hand. Einbrüche, Prostitution, Nachtleben – aus Francis wird Franz, ein Teil des Berliner Untergrunds. Als Reinhold ihn eines Tages aus einem fahrenden Auto schubst und er einen Arm verliert, holt die Liebe ihn zurück ins Leben: Mieze. Das kann der missgünstige Reinhold so nicht stehen lassen.
Wie wird’s erzählt?
Mit allen Registern des Erzählkinos. Die Kamera fliegt virtuos durch den Raum, meist zu realen Berliner Schauplätzen, die aber nachts mit Neonlicht und Nebelschwaden verfremdet werden. Die Montage entführt in Erinnerungs- und Traumwelten. Ein wummernder Soundtrack lässt drei Stunden lang kaum Ruhe einkehren. Und Jella Haase, sie spielt Mieze, fabuliert als Erzählerin auf der Tonspur. Burhan Qurbani galt eh schon als große Regie-Hoffnung. So bombastisch wie in diesem – seinem dritten – Film fährt das deutsche Kino selten auf.
Während der Berlinale 2020 haben wir Schauspielerinnen und Regisseure für Kurzinterviews getroffen – unter anderem auch Burhan Qurbani
Was soll uns das zeigen?
Döblins Literaturklassiker von 1929 in eine von globalen Krisen geprägte Gegenwart zu versetzen kann man wahlweise dringlich oder plakativ finden. Abwegig ist der Gedanke jedenfalls nicht. Auch an deutschen Theatern wurden in den letzten Jahren viele Klassiker mit einer Fluchtthematik aktualisiert. Was der vorbestrafte Proletarier Franz Biberkopf – der Protagonist im Roman – in der Weimarer Zeit war, sieht der Film heute im Geflüchteten Francis: das schwächste Glied in einer ungleichen Gesellschaft. Der Romanheld Franz erschlägt allerdings aus Eifersucht seine Frau, vergewaltigt seine Schwägerin und ist überhaupt ein total düsterer Charakter. Aus Francis macht der Film einen Sympathieträger, dem man jedes Glück gönnt. Qurbani hat Döblins Werk auf Humanismus getrimmt.
Beste Nebenrolle
Albrecht Schuch stiehlt dem Hauptdarsteller Welket Bungué leider die Show. Das liegt vor allem am Rollenprofil: Schuch darf sich als Reinhold zwischen Clown, Ganove, Psychopath und Jammerlappen vollkommen austoben.
Stärkster Satz
„Wir sind das neue Deutschland: eine schwarze Amazone, eine durchgeknallte Transe und ein einarmiger Bandit“
Die Transfrau Berta und die Afrodeutsche Eva führen den hippen Club, wo auch Francis nach seiner Armamputation tanzen geht. Der reale Schauplatz, das Ballhaus in der Chausseestraße, ist noch aus den 20er-Jahren erhalten. Zumindest einmal vermischen sich hier die Zeit des Romans und ein queeres, postmigrantisches Berlin von heute.
Schwierig
Eigentlich will man diesen Film unbedingt mögen. Die große Ambition, das handwerkliche Talent, die Diversität vor und hinter der Kamera – all das braucht der deutsche Film dringend. Aber irgendwie wirkt vieles an den Figuren bloß behauptet, die Dialoge manchmal auf alberne Art offensichtlich. „Du bist etwas ganz Besonderes“, wird Francis ungefähr fünfmal gesagt. Die platte Symbolik, ein schuldbewusster Traum mit einem rot leuchtenden Kreuz nervt auch. Und wenn man einen Stoff schon drastisch aktualisiert, hätte man aus Mieze auch etwas anderes als die „Hure mit dem goldenen Herzen“ machen können.
Ideal für …
… ganz Deutschland, zumindest wenn es nach Burhan Qurbani geht. Als Nächstes will er eine Trilogie zum Thema „Einigkeit und Recht und Freiheit“ drehen. Wie gesagt, am Mut zum großen Wurf fehlt es ihm nicht.
„Berlin Alexanderplatz“ feierte auf der Berlinale Premiere – weshalb wir den Film auch schon im Februar besprochen haben – und läuft ab sofort in den Kinos.
© Stephanie Kulbach/2019 Sommerhaus/eOne Germany