Sonntag, 19.2.

Gestern Abend war es dann soweit: Zeit für die Bären. Und irgendwie passte es zu dieser 67. Berlinale, bei der viel über die Qualität der Filme im Wettbewerb gemault und dauernd nach politischen Bekenntnissen gesucht wurde, dass das Bild des Abends Festivalchef Dieter Kosslick gleich selbst lieferte. Während in Oberhausen der türkische Ministerpräsident Binali Yildirim vor knapp 10.000 Menschen für Erdoğans umstrittene Verfassungsreform zu einem Präsidialsystem warb, erinnerte Kosslick an den in Istanbul inhaftierten Korrespondenten der „Welt“, Deniz Yücel: „Wir denken an dich.“

Preise gabs natürlich trotzdem. Kennt man ja – the Show must go on und so. Gewonnen hat den Goldenen Bären das ungarische Schlachthofdrama „On Body and Soul“. Eine zumindest kleine Überraschung. Auch wenn der Film von Ildikó Enyedi sehr gute Kritiken bekam, hielten doch die meisten Aki Kaurismäki, den finnischen Großmeister der Dialogvermeidung, mit seinem Film „The other side of hope“ für den Favoriten. Er selbst sah das wohl auch so. Seinen Bären für die beste Regiearbeit stopfte er mit einem selbst für seine Verhältnisse knappen „Thank you“ in die Jackentasche.

Sonst noch auf dem Siegertreppchen vertreten: Den Großen Preis der Jury holte „Felicité“, der Film über eine kongolesische Nachtklub-Sängerin. Mit dem Alfred-Bauer-Preis, der Filme, die neue Perspektiven eröffnen, zeichnete die Jury den polnischen Film „Pokot“ von Agnieszka Holland aus. Georg Friedrich („Helle Nächte“) und Kim Min-hee („On the Beach at Night Alone“) wurden für ihre darstellerischen Leistungen geehrt, Dana Bunescu für den Schnitt von „Ana, mon amour“ und Sebastián Lelio und Gonzalo Maza für ihr Drehbuch zum Teddy-Gewinner „Una mujer fantástica“ über eine Transgender-Frau und „Sommer 1993“ der spanischen Regisseurin Carla Simón als bester Erstlingsfilm.

Mutige Preise bei der Generation

Der erstmals vergebene und mit 50.000 Euro dotierte Dokumentarfilmpreis ging an „Ghost Hunting“ von Raed Andoni, in dem er palästinensische Insassen des Jerusalemer Moskobiya-Verhörzentrums ihre Erfahrungen nachspielen lässt.

Und das waren noch längst nicht alle Preise. Unter anderem auch die Sektion Generation, die sich dem Kinder- und Jugendfilm annimmt, verteilt viele Auszeichnungen, über die unter anderem Kinder- und Jugendjury abstimmen. In der Generation 14 Plus kamen die „Butterfly Kisses“ aufs Siegertreppchen, das Regie-Debüt des polnisch-englischen Regisseurs Raphael, in dem er sich dem schwierigen Thema Pädophilie angenommen hat. Die internationale Jury dagegen fand Shkola Nomar 3 am besten, eine Dokumentation über eine Schule in der umkämpften Ostukraine (hier geht’s zum fluter.de-Steckbrief).

Bei so vielen Preisen lässt sich dieser Blog von der allgemeinen Sektlaune anstecken und gönnt sich jetzt einfach auch mal einen. Also, den großen fluter.de-Preis für den lustigsten Berlinale-Kommentar in einem Printmedium gewinnt Jens Balzer, Musikkritiker der Berliner Zeitung, der sich hier so seine Gedanken um „Wilde Maus“ von Josef Hader macht. Der Film handelt von einem Musikkritiker einer Zeitung. (fd)

Samstag, 18.2.

Greatest S/Hit

Jetzt sind alle Premieren durch (und wir ehrlich gesagt auch). Höchste Zeit also, einmal kritisch Bilanz zu ziehen

Greatest Hit

Josef Haders bitter-komischer Lebenskrisenfilm „Wilde Maus“ hatte unfassbar lustige Momente, der japanische „Mr. Long“ hat mich zu Tränen gerührt. Insgesamt am stärksten war letztlich aber doch der Beitrag, der nicht nur von mir als Bären-Kandidat gehandelt wird: Aki Kaurismäkis „Die andere Seite der Hoffnung“ über einen syrischen Flüchtling und einen finnischen Restaurantbesitzer.

Ein Film, der zeigt, dass es kein Gramm Pathos braucht, um Menschlichkeit zu vermitteln.

Greatest Shit

Die lieben Kollegen. Leider laufen auch dieses Jahr viel zu viele Journalisten und Journalistinnen auf der Berlinale herum, die die Einlasserinnen und andere Leute vom Berlinale-Staff von oben herab behandeln, die sich vordrängeln, im Weg rumstehen, kurz: sich verhalten, als wären sie die wichtigsten Personen des Festivals. Das sind aber nun mal – sorrynotsorry – die Leute auf der Leinwand, nicht die davor.

Gänsehautmoment

„Mr. Long“ ist eine seltsame Mischung: Ein taiwanesischer Auftragskiller strandet in einem japanischen Slum, freundet sich mit dem kleinen Sohn einer drogensüchtigen Prostituierten an und entdeckt sein Talent als Imbisskoch. Es ist ein wenig Gangsterfilm, ein wenig Slapstickkomödie, ein wenig Liebesfilm, ein wenig Sozialdrama und insgesamt sehr asiatisch und poetisch. Die Szene, in der die Prostituierte, inzwischen clean, von den Yakuza-Geistern ihrer Vergangenheit eingeholt wird, macht dabei besonders melancholisch.

Überraschung

„Trainspotting“ ist ein Überfilm, ein Monument, ein prägendes Ereignis für eine gesamte Generation, zu der ich (Jahrgang 1980) auch zähle. Die Nachricht eines Nachfolgers erschien mir eher beängstigend: Das kann doch nur eine Enttäuschung werden. Doch Regisseur Danny Boyle findet den einzig richtigen Weg aus dem Dilemma, dass 95 Prozent der „T2“-Zuschauer ihn nur aus Nostalgiegründen schauen: Er macht Nostalgie direkt zum Thema des Films! Dazu kommen noch viele visuelle Ideen, ein paar richtig lustige Szenen – der Film ist gut, und mehr war nicht zu erwarten.

Hoffnungsträger

Jetzt haben sie also die Pappbecher im Pressebereich abgeschafft. Sehr gut für die Umwelt! Das macht Hoffnung, dass die Berlinale langfristig auch keine Autofirma mehr als Hauptsponsor braucht. Oder die Stars zum roten Teppich zumindest in E-Modellen vorfahren lässt.

Greatest Hit

Es war definitiv das Jahr der guten Dokus. Wie passend, wird doch 2017 zum ersten Mal ein mit 50.000 Euro dotierter Preis für Dokumentarfilme ausgelobt. Einerseits ist das nur richtig, denn das Genre erlebt derzeit ja einen steilen Aufstieg, vor zehn Jahren lief kaum eine Doku im Kino. Andererseits ist das super, weil die Dokus oft eine wackligere Finanzierung haben als Spielfilme.

Meine Lieblingsdoku neben „I am not your negro“ von Raoul Peck war „Strong Island“, der Debütfilm der US-Regisseurin Yance Ford über ihren ermordeten Bruder, dessen Fall nie vor Gericht kam.

Greatest Shit

In dem ziemlich guten „Mein wunderbares Westberlin“ von Jochen Hick, auch eine Doku, über die Westberliner Schwulenbewegung, gab es eine Szene, die mich nachhaltig verstört hat. Nein, nicht die Super-8-Porno-Ausschnitte aus den 70ern von Wieland Speck (heute Sektionsleiter des Panorama), sondern wie hart sich die katholische Kirche in den 80er-Jahren gegenüber Aidskranken verhalten hat.

Gänsehautmoment

Jedes Mal, wenn das Licht nach der Vorstellung angeht, Applaus aufbrandet und die Regisseure auf die Bühne gehen. Immer ein besonderer Moment. Kann aber auch ein Mitschäm-Moment sein, wenn der Film nur so lauwarmen Applaus kriegt.

Überraschung

Eine interessante Doku lief im Kulinarischen Kino, einer Nischensektion, die nicht nur (aber besonders) für Foodnerds interessant ist. In „Atlantik“ ging es um die Überfischung des Kabeljau vor den Küsten Norwegens. Die muss wohl auch das Team vom Buns Mobile Food Truck gesehen haben, die beim Street Food Market am Potsdamer Platz gastierten. In meinem Fisch-Burger für 7 Euro war gleich so wenig Kabeljau (aus dem Nordostpazifik, also laut Greenpeace ok), dass ich mich nebenan gleich nochmal anstellen musste. Diesmal bei den vegetarischen Tacos.

Hoffnungsträger

Ein tolles Debüt hat der Absolvent der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB) Julian Radlmaier abgeliefert. „Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes“ ist Kino über das Kino, aber nicht kopflastig, sondern lustig und mit tollen Schauspielern – zum Beispiel mit Julian Radlmaier.

Greatest Hit

Es gab für mich so einige gute, aber nicht den einen überragenden Film, daher ein Soundtrack-Hit. Aki Kaurismäki hat es in „The Other Side Of Hope“ wieder – wie in jedem seiner Filme –

Greatest Shit

„Don’t Swallow My Heart, Alligator Girl!“ (Generation) vom brasilianischen Regisseur Felipe Bragança (Filmbeschreibung im Fake-Film-Quiz vom 14.2.). Ein krudes Romeo-und-Julia-Ethnokitsch-Bikergang-Splatter-Movie. Mit Sexploitation-Elementen. Es ist wirklich so absurd, wie es klingt.

Gänsehautmoment

Filmgespräch mit dem Team von „For Ahkeem“, dem bewegenden Film über das afroamerikanische Mädchen Daje aus St. Louis und ihren Freund Antonio. Mit 17 kämpft sie als werdende Mutter um ihren Schulabschluss, während ihm, wie vielen jungen Afroamerikanern, die sogenannten „school-to-prison-pipeline“ droht. Auf Zuschauernachfrage erzählt einer der Regisseure von der positiven Entwicklung, die Daje genommen hat. „With Antonio, though, it’s a sadder story.“ Er hat seine Bewährungsauflagen verletzt und ist zu sieben Jahren Haft verurteilt worden. Stille im Kinosaal. Sagen wir eher: Es-läuft-mir-kalt-den-Rücken-runter-Moment.

Überraschung

Mehr oder weniger zufällig, auch aufgrund des Titels, bin ich in das einzige Screening von „Die Jungfrauenmaschine“ im Zoo-Palast gestolpert. Der Film von 1988 über die sexuelle Entdeckungsreise einer jungen Frau lief als Panorama-Special, weil Regisseurin Monika Treut dieses Jahr den Special Teddy Award, eine Art Preis fürs Lebenswerk, bekam. Neu für mich: dass es in den 80er-Jahren ein sinnliches, humorvolles feministisches Kino gab, das im lässigen Dissens zum deutschen Film der damaligen Zeit (oder überhaupt zum deutschen Film) stand. Wie feindselig ihre Filme seinerzeit in der BRD rezipiert wurden, erzählt Monika Treut in einem lesenswerten Interview mit dem „Tagesspiegel“.

Hoffnungsträgerin

Auch wenn wir sie in unserem Lieblingsfrauen-Listicle schon gewürdigt haben, kann es für mich hier nur eine geben: „Maman Colonelle“ Honorine Munyole. Wer könnte schon mehr Hoffnung geben als eine hemdsärmelige kongolesische Polizistin mit akkurat sitzender Uniform und adrettem Haarschnitt, die im Dokumentarfilm von Dieudo Hamadi Dutzenden Menschen ein Leben in Würde zurückgibt?

Greatest Hit

Die wütenden, klugen und mutigen Frauen: Wie sich Jakob Lass' Tiger Girls durch Berlin pöbeln, wie die junge Mutter in „For Ahkeem“ für ein neues Leben kämpft, wie die zynische Patricia Clarkson in „The Party“ jeden auf den Punkt disst und wie Anjela Nedyalkova in „Trainspotting“ mit einer Tasche voller Scheine verschwindet.

Greatest Shit

Im Pressebeutel der Berlinale war diesmal so ein toller silberner Kaffee-To-Go-Becher, damit weniger Pappbecher im Müll landen. Mein Tipp: Tolle Berlinale-Kaffee-To-Go-Becher nicht aus den Augen verlieren. Wenn es hunderte davon gibt, ist es völlig unmöglich seinen wiederzufinden. Unmöglich.

Gänsehautmoment

Wie Maggie Gyllenhaal über ihre Ängste hinsichtlich der USA redet. Etwa als sie erklärt, dass gerade jeder Film politisch sei, weil die Menschen in ihrem Land kaum etwas anderes als Politik im Kopf hätten. „Meine Kinder träumen mittlerweile von Trump", sagt sie.

Überraschung

Da ich nie in Luxus-Hotels unterwegs bin: Die Fahrstuhlfahrt zum Jakob-Lass-Interview und die einzigen zwei Knöpfe im Fahrstuhl für 1. und dem 24. Stock. Bis jetzt frage ich mich, wo die anderen Stockwerke sind. Mein Gleis-Neundreiviertel-Moment.

Hoffnungsträger

DJ Move D steht in der Doku „Denk ich an Deutschland in der Nacht“ auf einer Wiese im Nirgendwo. Fünf Minuten lang erklärt er vollkommen entspannt, aber doch mit Überzeugung den Zusammenhang zwischen elektronischer Musik, Astrophysik, der ersten Mondlandung, seinem Vater, Landschaften, Pferden und Äpfeln. Und das Ganze ergibt sogar Sinn. Ich lebe seit sechs Jahren in Berlin, doch in diesem Moment mag ich Elektro zum ersten Mal. Move D deshalb: mein persönlicher Hoffnungsträger.

Freitag, 17.2.

Kino heißt streiten

Die Berlinale empfängt gerne große Namen aus der Filmindustrie, will aber unbedingt auch der Ort für ein „anderes Kino“ sein. Im Rahmen des Teddy Award finden die „Diversity Talks“ statt, eine Debattenreihe rund ums „Queer Cinema“, in der Filmkritiker Toby Ashraf mit der Schwedin Lia Hietala und dem Australier Neil Triffett sprach, zwei Filmschaffenden aus dem Kinder- und Jugendprogramm Generation. Bei „Queer for the Kids“ geht es um Jugendfilme, die Gender-Diversität und Teenager-Identitäten abseits der heterosexuellen Norm zeigen.

Fünf Anregungen aus der Debatte, warum es auch für Jugendliche mehr queere Filme geben sollte:

1. Queere Filme klären auf

Vor nicht allzu langer Zeit wurde Homosexualität im Unterricht gerne mal anhand eines Pädophilie-Clips behandelt, berichtet Toby Ashraf. Auch wenn das heute eine Seltenheit sein dürfte: In Zeiten, in denen auch in Deutschland gegen eine nicht-normative Sexualaufklärung demonstriert wird, gibt es immer noch zu wenig Diversität in der Schulbildung. Queere Filme zeigen ganz nebenbei, dass Geschlechteridentitäten nicht festgeschrieben sind und dass es deutlich mehr gibt als Mann + Frau = Kind.

2. Queere Filme können ziemlich witzig sein

Und oft lernt man dabei etwas über die Klischees, die einen selbst geprägt haben. In „EMO the Musical“ von Neil Triffett etwa versucht ein sehr katholischer Junge seine Homosexualität loszuwerden und besucht eine „Conversion Therapy“ (gibt’s leider wirklich), um schließlich einzusehen, welch absurden Männlichkeitsidealen er da nacheifert. Und im Kurzfilm „Min Homosyster“ von Lia Hietala gibt es die schöne Idee, dass die Schüler einer Klasse eine neue Sprachregel einführen: Statt des Schimpfworts „Pussy“ sagen sie jetzt einfach immer „Fanta Exotica“.

3. Queere Filme stoßen den Erfahrungsaustausch an

„Kino heißt streiten“, sagt der französische Regisseur Jean-Luc Godard. Er meint damit: Kaum eine Kunst provoziert so sehr die unmittelbare emotionale Reaktion wie der Film – im Positiven wie im Negativen. Im Positiven heißt das etwa: Wenn man sich in einem Film wiederfindet – oder gar etwas Neues über sich erfährt, gibt das oft erst den Anstoß, darüber auch sprechen zu können.

4. Heteronormative Filme gibt’s eh genug

Siehe Disney, Oscars, Til Schweiger etc. pp. Und auch wenn in den letzten Jahren mehr queere Filme entstehen, schaffen sie es meist nicht ins Kino, weil sie von den Verleihen als „Nischenwerke“ gelabelt werden. Deshalb:

5. Gender Diversity muss raus aus der Nische

Leider ist „Queer for the Kids“ ein gutes Beispiel. Während die Festival-Prominenz direkt beim Berlinale-Palast über Nachwuchsstars und Filmförderung plaudern darf, finden die „Diversity Talks“ in einer Craftbeer-Brauerei am Gleisdreieck statt, weit ab vom Festivalzentrum. Circa 15 Zuschauer sind da und – den Redebeiträgen zufolge – scheinen sich alle persönlich der Queer- oder Schwulen-Szene zuzurechnen. Wie wichtig ist dir das Thema jetzt eigentlich, Berlinale?

Am Publikumstag der Berlinale läuft übrigens traditionell die „Teddyrolle“, ein Kurzfilmprogramm mit queeren Filmen aus dem diesjährigen Festival: Sonntag, 19.02.2017, um 16 Uhr im Kino International. (jpk)

Filme Hören mit Greta

Für blinde und sehbehinderte Menschen ist es schwierig, einen schönen Kinoabend zu haben. Aber nicht unmöglich. Christine Stöckel beschreibt, was passiert, wenn ein Film zum Hörfilm wird

Solange es im Kino still ist, schweigt auch die App. Ich sitze im Berlinalepalast und die ersten Minuten von Thomas Aslans Vater-Sohn-Drama „Helle Nächte“ laufen. Dank der App Greta werde ich den Film mit Audiodeskription erleben können – also mit akustischen Filmbeschreibungen, die für blinde und sehbehinderte Menschen angeboten werden.

Die Frage ist nun: Was passiert da, wenn ein Film zum Hörfilm wird, was verändert, verbessert oder verschlechtert sich?

Das Smartphone ist mit Kopfhörern verbunden. Die Audiodeskription zum Film habe ich über Greta heruntergeladen. Die App zeigt einen großen, gelben Play-Button. Ist der gedrückt, erklingt ein gleichbleibendes Geräusch: Klack, klack, klack, klack. „Helle Nächte“ ist ein ruhiger Film, zu Beginn wird kaum gesprochen. Das Problem: Greta startet erst, wenn sie sich mit dem Film synchronisiert hat. Wie bei der Musikerkennungs-App Shazam funktioniert das am besten anhand von Sprache. Beim ersten Film-Dialog macht's dann plötzlich „Pling!“, Greta läuft.

Es ist ein bisschen wie ich es von Hörspielkassetten aus der Kindheit kenne.

Audiodeskription gibt es in Deutschland seit 1989. Auf der Berlinale werden Hörfilme seit zehn Jahren angeboten – sieben laufen 2017 im Programm. „Helle Nächte“ wurde eigens für das Festival audiodeskribiert. Bei „Wilde Maus“ bot die Berlinale zudem ein von Dolby entwickeltes Audio Guide System an, das App-los funktioniert. „Oft haben ältere Menschen kein Smartphone. Und wie bei jeder anderen App können Probleme auftreten, wenn das Netz schwach oder nicht das neueste Update installiert ist“, erzählt Anke Nicolai, sie koordiniert die Audiodeskriptionen auf der Berlinale ehrenamtlich im Namen von Hörfilm e. V.

Wieder zurück ins Kino: Die App läuft nun einwandfrei. Eine Erzählerin beschreibt alles – es ist ein bisschen wie ich es von Hörspielkassetten aus der Kindheit kenne. Gestik, Mimik, Kostüme, Schauplätze und Handlungen werden in Worte gefasst. Teils zeitversetzt, denn die Audiodeskription muss die Pausen zwischen den Dialogen abwarten. Auf der Leinwand schweigt sich das Vater-Sohn-Duo auf seinem Norwegen-Tripp an: „Luis hat blaue Augen“, sagt die Stimme. Dann: „Michael schaut missmutig nach unten.“ Dann: „Die beiden tragen Rucksäcke, an denen Isomatten hängen, und laufen auf einen grauen Landrover zu“.

Sind Luis' Augen nicht eher grün? Schaut Michael nicht eher traurig? Ist das überhaupt wichtig?

Manchmal empfinde ich Dinge anders: Sind Luis' Augen nicht eher grün? Schaut Michael nicht eher traurig? Ist das überhaupt wichtig? Manchmal erfahre ich wiederum Dinge, die ich sonst nicht gewusst hätte: Die Automarke des Jeeps. Details in der norwegischen Landschaft, die mir entgangen wären. Es dauert eine Weile, dann schließe ich die Augen ganz: Mir wird die Rolle der Filmmusik plötzlich bewusster. Ich mag die Stimme der Erzählerin. Das ist wichtig, denke ich. Sie klingt sanft, zurückhaltend, beschreibt prägnant. Sie schweigt, wenn es nötig ist. Das fängt die angespannte Atmosphäre zwischen Vater und Sohn oft besser ein als jedes Bild.

„Audiodeskriptionen sind bei allen Filmen möglich“, erklärt Nicolai. „Bei Komödien oder Actionfilmen kann die Stimme auch impulsiver werden. Langjährige Erfahrung und Feedback von blinden Menschen zeigen aber, dass neutrale Beschreibungen erwünscht sind.“ Die Erstellung Audiodeskription ist eine Teamarbeit von sehenden, nicht sehenden oder hochgradig sehbehinderten Menschen. Es gibt feste Standards, nach denen sich die AutorInnen richten. „Die Augenfarbe vom Luis-Schauspieler Tristan Göbel etwa wurde zuvor bei seiner Agentur angefragt“, erklärt Nicolai.

Können Hörfilme also auch ein Mehrwert für sehende Menschen sein und zum inklusiven Austausch beitragen? „Auf jeden Fall“, sagt Nicolai. „Auch für Sehende kann es eine intensive Erfahrung sein. Ihre Wahrnehmung kann durch die App im Sehen und im Hören geschärft werden. Die vielen langen, schweigsamen Episoden des Films zu gestalten, das ist eine eigene Kunstform.“ (cs)

Fake-Film-Quiz (3)

Die Berlinale geht auf die Zielgerade und auch in unserem Fake-Film-Quiz ist heute die letzte Runde. Wie immer laufen nur zwei dieser drei hier aufgelisteten Filme auf der Berlinale 2017. Welchen aber haben wir erfunden?

Streetscapes [Dialogue] (von Heinz Emigholz, Deutschland 2017)

Ein fiktionalisierter Dialog zwischen einem Regisseur und seinem Therapeuten, der auf Protokollen psychoanalytischer Sitzungen von Emigholz basiert, gedreht in Gebäuden von Julio Vilamajó, Eladio Dieste und Arno Brandlhuber in Uruguay und Berlin.

P:Ink (von Jacinta DeForrest, Kanada / Frankreich / Großbritannien 2017)

Baker Miller Pink gilt als Farbe mit beruhigender Wirkung, die sogar in Gefängnissen eingesetzt wird, die ewig pinke Barbie als antifeministische Ikone. Jacinta DeForrests Essay nähert sich in assoziativen Miniaturen einer äußerst ambivalenten Farbe.

Mon rot fai (Railway Sleepers, von Sompot Chidgasornpongse, Thailand 2016)

Die erste Bahnstrecke Thailands wurde 1890 eröffnet. Diese beobachtende Dokumentation zeigt die zweitägige Reise von Nord nach Süd als eine Reihe von Alltagsmomenten, deren leise Schönheit oft noch der Vergangenheit anzugehören scheint. (mbr)

PS: Für alle, die dringend eine Karte für „Delhi ist nicht Delmenhorst“ ergattern möchten, der Film aus dem letzten Fake-Film-Quiz vom Dienstag wurde noch nicht gedreht. Leider, muss man sagen. Aber das kann ja noch kommen. Spannend ist der Stoff ja allemal.

Donnerstag, 16.2.

Keinen Bären aufbinden lassen!

Tiere. Meistens tote Tiere. Sie sind überall auf der diesjährigen Berlinale, ganz gleich, ob man einen Experimentalfilm aus Argentinien oder einen Kriminalfilm aus Polen schaut. Die intendierte Bedeutung der Tierbilder, vor allem der Bilder von Tierkadavern, scheint oft ähnlich oder zumindest verwandt zu sein. In den beiden Wettbewerbsfilmen aus Ungarn und Polen etwa – „On Body and Soul“ von Ildikó Enyedi und „Spoor“ („Pokot“) von Agnieszka Holland – steht der Umgang mit den Tieren für eine Verrohung in Gesellschaften, die zunehmend autoritärer werden, wie auch die Süddeutsche Zeitung beobachtet hat. Der Mensch als eigentliche Bestie – für dieses alte, aber immer noch wirksame Motiv gibt es in einem Stück von Brecht ein schönes Bonmot: „Sieh an, er behandelt ihn wieder menschlich“, heißt es da über einen Mann, der wütend seinen Gaul auspeitscht.

Foto: Andreas Seibert

„No animals were harmed“

Eine Frage, die sich da natürlich sofort stellt, ist: Unter welchen Bedingungen wurden denn die Tiere gefilmt – insbesondere in Filmen, die sich kritisch mit der Behandlung von Tieren durch den Menschen auseinandersetzen. Für den Zuschauer ist das rein anhand der Filmaufnahmen schwer auszumachen. Er muss sich auf den beschwichtigenden Hinweis im Abspann verlassen: „No animals were harmed in the making of this movie.“ Bei diesem Satz handelt es sich allerdings um ein privates Gütesiegel, dass die American Humane Association (AHA) an vornehmlich US-amerikanische Filme vergibt. Was der Glaubwürdigkeit des Siegels aber nicht eben zuträglich ist:  Die Spielfilmproduktionen sind zugleich der Hauptfinanzier der AHA. Dass das Wohl der Tiere beim Dreh daher nicht immer und unbedingt die Hauptrolle spielt, kann man hier nachlesen.

Trigger Warning: Hier wird's gleich grausam

Dokus haften im Vergleich zum Spielfilm kaum für das Wohl der abgefilmten Tiere. Doch gerade hier zeigt sich beizeiten eine geradezu perverse Lust an den Bildern toter oder verendender Tiere, etwa in „The Theatre of Disappearance“ und in „Untitled“ vom bereits verstorbenen Michael Glawogger und seiner Cutterin Monika Willi. Beide Filme sind größtenteils in Afrika gedreht und zeigen – wann immer ein Bild für die Unwirtlichkeit der Landschaft oder den Kampf zwischen Mensch und Natur gebraucht wird – Schlachtereien, Fische und Insekten im Todeskampf oder Tierkadaver, die von Schmeißfliegen zerfressen werden.

Den sprichwörtlichen Vogel schießt jedoch „Traces“ („Wechma“) ab, ein Film aus dem Jahr 1970, der im Forum in einer kleinen Rückschau des jungen marokkanischen Kinos läuft. Eine Gruppe von Kindern, deren durch Gewalterfahrungen grausam gewordenes Gemüt die Szene illustrieren soll, legt einem Käuzchen schwere Steine auf die Flügel und zündet das wehrlose Tier bei lebendigem Leibe an. Das Bild bleibt so lange stehen, dass die Tötung des Tieres vor der Kamera zur Gewissheit wird.

Ob Berlinale-Direktor Dieter Kosslick, der gern aller Welt von seiner strikt vegetarischen Ernährung erzählt, das wohl auch auf den Magen schlägt? (jpk)

Hohe Tiere auf dem roten Teppich

Und jetzt ganz schnell zu etwas Erbaulichem. Denn Tiere sind gestern auch auf und neben dem Roten Teppich in Erscheinung getreten.

img_7627.jpg

Tiere auf dem roten Teppich bei der 67. Berlinale (Foto: Michael Brake)
(Foto: Michael Brake)

Erst gab sich das Berliner Bundesliga-Maskottchen Herthinho die Ehre, er hatte sein Trikot passend zum Anlass gegen einen Frack getauscht. Und dann tauchte auch noch ein Pokémon auf und versperrte den Weg in den Berlinale-Palast. Muss wohl am ungewöhnlich warmen Wetter gelegen haben, dass all diese Wesen plötzlich aus dem Winterschlaf erwacht und zum Potsdamer Platz gekommen sind. (mbr)

Street Swag

„In Berlin spricht man jetzt Arabisch“, sagt der Mann mit dem Rauschebart auf der Leinwand. „Ja!“, ruft einer im Publikum und es gibt Gejohle. Es ist ein Berliner Heimspiel an diesem Mittwochabend und die Stimmung ist ein wenig aufgekratzt, als die ersten beiden Folgen der sechsteiligen TV-Serie „4 Blocks“ Premiere feiern. Eine deutsche Mafiaserie, die um Himmelswillen nicht so aussehen will wie ein öffentlich-rechtlicher 20.15-Uhr-Krimi, sondern härter, echter – richtig street-wise eben. Produziert wurde sie vom Pay-TV-Sender TNT, wo sie ab Mai auch laufen wird.

Schauplatz ist Berlin-Neukölln, wo sich Mafiaclans um Drogen, Schutzgeld, Menschenhandel kümmern. Die libanesische Hamady-Familie wird durch die Festnahme eines wichtigen Mitglieds durcheinandergewirbelt und Tino, der sich eigentlich schon von der Straße zurückgezogen hatte und Familienvater sein will, muss die Geschäfte ordnen – auch, weil sein jüngerer Bruder Abbas dafür zu hitzköpfig ist.

„Wir lassen keine Deutschen bei uns rein.“

Wirkt die erste halbe Stunde von „4 Blocks“ noch etwas plump, mit Aggro-Rap, Kanak-Romantik, Koks und Nutten im Club, entfalten sich zunehmend mehr Konflikt- und Handlungsebenen: Tino Hamady hofft nach 26 Jahren Warten auf das Ende der befristeten Aufenthaltsgenehmigung, auf den deutschen Pass. Eine durchgeknallte Biker-Gang (den Anführer spielt Ronald Zehrfeld) macht dem Hamady-Clan die Geschäfte streitig. Mit Vince (Frederick Lau) kommt ein alter Freund von Tino zurück in die Stadt, ein Kleinkrimineller, dem Abbas nicht vertraut: „Wir lassen keine Deutschen bei uns rein.“

Dazu kommt der immer deutlicher werdende Konflikt der beiden ungleichen Brüder – es ist viel drin in „4 Blocks“, es macht Spaß, diese aufwändig produzierte Serie zu gucken. Und noch ein wenig mehr, wenn man dazu noch in Berlin lebt, vielleicht sogar in Neukölln, dessen Wandlung vom Migranten- zum Hipsterviertel ebenfalls thematisiert wird.

Der Shuttle-Bus zur HipHop-Party wartet schon

Neben den genannten deutschen Filmstars setzte der österreichische Regisseur Marvin Kren auch auf Laiendarsteller, „für den – entschuldigt das Wort – Street-Swag“, wie er nach der Premiere sagt. Mit dabei sind unter anderem die Rapper Veysel und Massiv, die, auch wenn sie gar nicht wirklich aus Berlin stammen, bei der Premiere sehr gefeiert werden. In Berlin aufgewachsen ist hingegen der wahre Star des Abends und der Serie: Kida Khodr Ramadan, der die Loyalitäts-Zerrissenheit von Hauptfigur Tino Hamady mit traurigen Augen spielt. Er kriegt den dicksten Applaus und draußen vor der Tür stehen schon die Shuttlebusse bereit, für die Afterparty im HipHop-Club. (mbr)

Wie politisch darf’s denn sein? (3)

Bevor es weitergeht ein kurzer Werbeblock. Jeder sollte wirklich unbedingt „I am not your Negro“ sehen. Der kluge, politisch engagierte, fantastisch bebilderte, elegant erzählte und trotz des total ernsten Themas manchmal sogar lustige Essayfilm über den amerikanischen Schriftsteller James Baldwin, einer der wichtigsten Stimmen der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, könnte gegenwärtiger kaum sein. „The story of the negro in America is the story of America“, sagte Baldwin. Und diese Geschichte spitzt sich ja gerade wieder zu. Werbung Ende.

Gestern war Premiere und Regisseur Raoul Peck, der zehn Jahre an diesem Film gearbeitet hat, war natürlich auch da. Nach dem seeeehr langen und von gar nicht so wenigen im Stehen vorgebrachten Applaus kam die übliche Fragerunde. Natürlich wollten alle was zu Trump hören, und sei es nur als Therapie gegen den Schock über die politischen Ereignisse. Doch keiner wollte den Namen direkt aussprechen. Das schien den vielen klugen Menschen im Saal wohl plump (wie Trump?). Dann lieber schwurbeln. Wie er es denn als schwarzer Europäer so empfinde, jetzt gerade in Amerika zu sein, fragte einer, der sich als schwarzer US-Amerikaner vorstellte. Naja, er sei ja überall schwarz, antwortete Peck. Etwas umständlich wurde der scheinbar Unaussprechliche später umschrieben. „Der 45ste“ rief einer aufgeregt dazwischen, als Peck erklärte, wie Reality TV die Wirklichkeit der Amerikaner verzerrt.

Haben die sich das bei Festival-Chef Kosslick abgeschaut? Der sagte bei der Pressekonferenz am Anfang der Berlinale: „Wir müssen über diesen Herren bis zum nächsten Impeachment wirklich nicht reden." (fd)

Couchkino – Baldwin-Special

Und weil „I am not your Negro“, der übrigens für den Oscar nominiert ist als bester Dokumentarfilm, erst am 30.3. in Deutschland anläuft, hier schon mal ein bisschen Baldwin im Bewegtbild. Thema der Debatte an der Cambridge University: Geht der „American Dream“ auf Kosten der Schwarzen?

Mittwoch, 15.2.

„Tiger Girl“ von Jakob Lass gehört zu den meistdiskutierten Filmen der diesjährigen Berlinale. Kein Wunder – bei den beiden schlagkräftigen weiblichen Hauptrollen.

fluter: In Ihrem Film „Tiger Girl“ streifen zwei junge Frauen durch Berlin, saufen, klauen, prügeln, und oft sind ihre Ziele männlich. Ist das jetzt eine radikale Form von Feminismus?

Jakob Lass: Feministisch – das ist ein Label, das mir gefällt. Aber das setze ich mir nicht selber auf. Ich habe mit diesem Film ja keine erzieherische Agenda. Wenn, muss das jeder für sich erkennen. Und eigentlich ist es auch kein genderspezifischer Film.

Gewalt durch Frauen – das ist dennoch ein seltenes Thema, auch auf der Leinwand.

Stimmt. Ich hatte aber einfach schon diesen Titel „Tiger Girl“ im Kopf und wollte eine Heldin mit diesem Namen. Aber warum keine Frauen? Für mich ist das Thema des Films unterdrückte Wut und Aggression, die im Alltag keiner zeigen würde. Und das meine ich universell, das gilt für jeden, auch für mich. Aber es ist vielleicht etwas, was Frauen noch mehr betrifft in den gesellschaftlichen Konventionen, in denen wir leben.

Die Kritik lautet ja häufig, dass Gewalt heroisiert wird, sobald sie von Frauen ausgeht.

Das habe ich über meinen Film auch schon gehört. Und ich spiele sehr ausdrücklich damit. Die beiden Frauenfiguren werden in kurzen Momenten heroisiert. Etwa wenn Tiger Girl in der U-Bahn Vanilla rettet und diese Koks-Affen mit einem Baseballschläger verprügelt. Das ist eine Überhöhung, das ist eine Heroisierung. Für den ganzen Film gilt das aber nicht. Solche Vorwürfe kommen meist von Leuten, die den Film noch gar nicht gesehen haben. Und es ist doch komisch, dass sich diese Fragen in den vielen Actionfilmen mit männlichen Charakteren nicht stellen. Dort hat man sich wohl schon daran gewöhnt.

Ihr Film „Love Steaks“ war der erste Fogma-Film der Welt. In dem von Ihnen aufgestellten Fogma-Regelwerk ist zu lesen, dass es bei den Filmen um Offenheit, Wachheit und Flow geht. Auch „Tiger Girl“ ist ein Fogma-Film. Wie lief das ab?

Ich gebe den Schauspielern kleine Ziele vor, die sie am Ende der Szene erreichen sollen. Ansonsten gibt es kein festes Drehbuch, die Dialoge wurden wieder frei improvisiert, ich erfinde viel. Da bringt etwa jemand, nur so aus Spaß, ein kleines ferngesteuertes Polizeiauto mit ans Set, das Tiger Girl dann später im Film plötzlich durch die Gegend fahren lässt. Dabei waren die größten Herausforderungen diesmal die Kampfsequenzen, die ja wiederum sehr genau choreografiert wurden. Die mussten so eingefügt werden, dass sie zum Rest des Films passen und sich ebenso spontan und authentisch anfühlen. Das war schwierig für die Kamera, den Schnitt und auch für die Darsteller.

Weil das Kämpfen so eine große Rolle im Film spielt und auch Sie vorhin von Aggressionen sprachen: Haben Sie schon mal daran gedacht, sich mit jemandem zu prügeln?

Eine Assoziation wären da Rechtspopulisten, jene Leute, die sich mit Fremdenfeindlichkeit an die Macht arbeiten. Aber selbst denen möchte ich keine Gewalt antun. Sondern ich möchte, dass wir Politiker haben, die denen was entgegensetzen. Gewalt hat ihren Platz in der Fiktion. Da kann man sie ausleben. Da gehört sie hin. (cs)

Lieblingsfrauen-auf-der-Berlinale-bis-heute-Listicle

Ok – da müssen wir jetzt kurz durch. Gerade kam die Studie der Filmförderungsanstalt (FFA) zum Thema „Gender und Film“ heraus, und die bestätigt, was ja längst alle wissen. Im Filmgeschäft dominieren die Männer. Nur 23 Prozent der deutschen Kinofilme stammen von Regisseurinnen. Die Studie geht noch ins Detail. In den Bereichen Schnitt, Buch, Kamera und Ton sieht es ähnlich aus, nur im Kostüm, da sind die Frauen überdurchschnittlich oft vertreten. Besonders blöd: An der Ausbildung liegt es nicht. Bei den Absolventen der Filmhochschulen ist das Geschlechterverhältnis noch recht ausgeglichen. Als Erklärung nennt die Studie unter anderem branchenspezifische Faktoren. Im Film dominieren Seilschaften – und die knüpfen oft Männer.

Auf der Berlinale übrigens sind 125 von 399 Filmen von Frauen. Das kann man noch ausbauen. Und jetzt – Reisschwenk – zu unseren Lieblingsfrauen dieser Berlinale. Und die startet natürlich mit ...

Tiger Girl (Ella Rumpf) und Vanilla (Maria Dragus):

Zwei prügelnde, pöbelnde Frauen ziehen in Security-Uniformen durch Berlin und lernen deren Macht (aus)zunutzen. In „Tiger Girl“ geht es um die Entdeckung der eigenen Kraft und das Ablegen des Immer-brav-sein-müssens – das jungen Frauen immer noch vielfach anerzogen wird. Hauende Frauen auf der Leinwand, das ist trotz Figuren wie Lara Croft, Beatrix Kiddo oder Charlies Angels immer noch neu, aufregend und manchmal kaum auszuhalten.

April (Patricia Clarkson) in „The Party“

Patricia Clarkson ist für ihre Rollen als zynischer Sidekick bekannt – oft spielt sie die lästernde beste Freundin oder die abgeklärte Ehefrau. Dabei ist sie immer klug und bewahrt einen gewissen Stil. Selbiges gilt auch für Sally Potters Kammerspiel „The Party“. Hier übertrifft sich Clarkson als April selbst, wenn sie auf jeden Nervenzusammenbruch ihrer Establishment-Freunde die passende Antwort liefert. Als ihr Mann, ein esoterisch angehauchter Lebensberater, zu einem kaputten Fenster sagt: „Viel wichtiger sind doch die Fenster zu unseren Seelen“, lehnt sich Clarkson langsam vor, schaut ihren Ehemann an und sagt: „Ach Gottfried, halt doch die Klappe.“

Honorine Munyole in „Maman Colonelle“

Man hat den Eindruck, als sei sie Polizistin, Bürgermeisterin, Sozialhelferin und Psychologin in einem. Honorine Munyole aus dem nach ihr benannten Dokumentarfilm „Maman Colonelle“ leitet eine Polizeieinheit zum Schutz von Frauen und Kindern in Kisangani, einer Großstadt im Norden der Demokratischen Republik Kongo. Selbst Witwe und Mutter von sieben Kindern, vertritt sie die Rechte von Kriegs- und Vergewaltigungsopfern, rettet misshandelte Kinder, denen Eltern und Angehörige die „Hexerei“ austreiben wollen, und appelliert eindrücklich auf dem Marktplatz an die Bevölkerung der von Kriegen gezeichneten Stadt. Wie couragiert, rational und dennoch empathisch Honorine Munyole zwischen all diesem Leid bleiben kann, ist zugleich Rätsel und Hoffnungsschimmer.

Negros (Bim Bam Merstein) in „Django“

Junge, schöne Frauen sieht man ja oft im Kino, alte und runzlige eher nicht. Ein Jammer. Sie können nämlich die besten Auftritte hinlegen. Zum Beispiel Bim Bam Merstein. Sie gibt dem bisschen lahmen Eröffnungsfilm „Django“ ordentlich Schwung. Bombenalarm? Alle rennen in die Schutzbunker, sie bleibt liegen. Niedrige Gage? Sie verhandelt mit finsteren Nazis nach: „Besser spielen kostet mehr!“ Was hat sie eigentlich bisher so gemacht?

Gabi (Gisa Flake) in „Gabi“

Frauen, die ’ne Ansage machen – glaubt man den Ergebnissen des Bechdel-Test, muss man einige XL-Tüten Popcorn essen, bis man die mal zu sehen bekommt. Denn der Bechdel-Test zeigt immer wieder, dass Frauen in vielen Filmen erschreckend wenig zu sagen haben. Und wenn sie doch mal reden dürfen, dann meist über Männer. Gut, dass es Gabi gibt, die Fliesenlegerin aus Brandenburg. Die muss sich zwar um den dementen Vater kümmern, aber auf dem Bau, da sagt sie, was Sache ist.

Fatima in „Tigmi n Igren“

Am liebsten geht die 16-Jährige Fatima zur Schule. Sie will lernen, denn sie will Anwältin werden. Begeistert erzählt sie einer Schulfreundin davon, was sie im Fernsehen gesehen hat: dass in Marokko Frauen und Männer ab sofort gleichberechtigt seien. Doch ob ihr Traum wahr wird? Fatima lebt in einem Dorf im Atlasgebirge, ihre drei Jahre ältere Schwester Khadija geht nicht mehr zur Schule, sie wird im Sommer einen Mann heiraten, den sie nicht kennt.

Bechergate geht weiter

Wir hatten ja schon über die Mehrwegbecherpolitik an den Kaffeeautomaten berichtet. Erst wurden keine Pappbecher ausgeteilt, dann doch. Nach drei Tage nun die nächste Wende: auf einmal gibt es wirklich gar keine Pappbecher mehr im Pressebereich. Dafür werden jetzt kleine weiße, an Zahnputzplastikbecher erinnernde Becher für zwei Euro vermietet. Diese No-Coffee-Cup-Policy sei übrigens üblich bei internationalen Festivals, in Cannes, Los Angeles und überall sonst, erklärte uns der Barista, bevor er den nächsten perfekt temperierten Cappuccino zubereitete. Der Kampf geht weiter! (mbr)

Couchkino (3)

Und noch was zum Anschauen, für das man weder zahlen noch anstehen muss. Im Teil drei unseres Couchkinos treffen wir Ladan, die gerne skatet, sonst aber nicht viel zu lachen hat. Beste Szene: Wie die Skater-Girls die Jungs von ihrem Spot vertreiben, weil sie die Frage: „Wer ist Angela Davis?“ nicht beantworten können. Der Kurzfilm „Crystal Lake“ lief letztes Jahr in der Sektion Generation, die Regisseurin Jennifer Reeder ist dieses Jahr in der Jury.  (fd)

Dienstag, 14.2.

Halb Mensch, halb Kinositz

Von den 399 Filmen auf der Berlinale ist „Combat au bout de la nuit“ der Längste. Fast fünf Stunden dauert die Doku über die Krise in Griechenland. Ein Minutenprotokoll

15 Uhr

Überraschung: Der Saal ist fast voll. Viele haben was zu Essen und zu Trinken dabei. Enttäuschung: Es gibt zwar überall auf der Berlinale Kaffeeautomaten von einem der Sponsoren. Hier aber, wo man wirklich einen gebrauchen könnte, fehlt er.

15.07 Uhr

Angstschweiß! Bleibt das so? In den ersten sieben Minuten Film werden erst im Stakkato Gesetzesvorlagen vor dem leeren griechischen Parlament durchgedrückt, dann politische Positionen und wirtschaftliche Daten so übereinander gelegt, dass eine audiovisuelle Achterbahn entsteht. Aufregend, anstrengend – und völlig unmöglich fünf Stunden auszuhalten.

15.30 Uhr

Ok, es hat sich beruhigt. Wir sehen: Demos gegen Sozialabbau. Ganz vorne die 595 Putzfrauen, die vom Finanzministerium 2014 rausgeschmissen wurden. Patienten in einer Sozialpraxis, leere Geschäfte, zugemauerte Hauseingänge, die Polizei, die gegen die Putzfrauen vorgeht, die mittlerweile das Büro des Finanzministers belagern.

15.41 Uhr

Neben mir hat sich eine Frau in eine mitgebrachte Decke eingerollt, wie bei einem Langstreckenflug.

15.53 Uhr

Ewige Einstellungen, wie man Menschen über die Schulter schaut. Soll wohl Komplizenschaft erzeugen, ist aber vor allem langweilig.

 

16.32 Uhr

Die Polizei will die Putzfrauen verjagen. Die wehren sich verzweifelt. Eine muss im Krankenwagen abtransportiert werden.

17 Uhr

Pause. Ein paar Leute machen Gymnastik, andere holen Kaffee, den sie dann nicht in den Saal mitnehmen dürfen. Einige hauen ab. Als es wieder losgeht, ist der Saal noch halb voll.

17.25 Uhr

Ein Werftarbeiter in Piräus spricht mit einem anderen Werftarbeiter. Verständlich, dass er sich über die Situation beklagt, aber nach zweieinhalb Stunden Dauerlamento über die Krise würde ich lieber einen furztrockenen Volkswirtschaftler hören, der ein paar Zusammenhänge erklärt.

17.45 Uhr

Heimlich „Austeritätspolitik“ gegoogelt. Links vor mir schläft einer.

18.07 Uhr

Jetzt singen die Werftarbeiter ein Arbeiterlied von Mikis Theodorakis. Sehr anrührend. 

18.15 Uhr

Emotionaler Höhepunkt bisher: Ein obdachloser Seemann spricht über seine Kinder, die er schon seit Jahren nicht mehr gesehen hat. Wer hier nicht mit den Tränen kämpft, hat kein Herz.

18.32 Uhr

Endlich wieder die Putzfrauen! Sie haben vor Gericht gesiegt. Die 595 Putzfrauen behalten ihre Jobs im Finanzministerium, sehen aber ganz schön erschöpft aus.

18.43 Uhr

Schuldgefühle: Die Griechen leiden, die Griechen kämpfen und ich denk nur, dass mir alles weh tut vom Sitzen. Hab keine Rückenspannung mehr. Bin halb Mensch, halb Kinositz.

19.00 Uhr

Ich kann nicht mehr. Die kitschigen Gedichte, die ewiggleichen Schwenks über das Wasser, der miese Ton. Was gewinnt der Film durch seine epische Länge?

19.15 Uhr

Die Leinwand wird schwarz. Aber nur kurz. Dann geht Teil 3 los. Stöhnen im Publikum.

19.17 Uhr

Tsipras schwört die Griechen mit viel Pathos auf ein „Oxi“, ein Nein gegen die Sparpläne aus Brüssel ein.

19.30 Uhr

Seit zehn Minuten schimpft eine Frau darüber, dass die Abstimmung ein Verrat war. Wer ist diese Frau?

19.47 Uhr

Jetzt geht es nur noch um Flüchtlinge, die vermutlich auf Lesbos ankommen. Warum fängt jetzt nochmal was Neues an?

20.15 Uhr

Aus, aus, aus, der Film ist aus! Erleichterung und leichte Aggression gegen den Regisseur. Der kommt auf die Bühne – und ist ein total sympathischer, bisschen zerzauster, zutiefst menschlicher Typ, der fast entschuldigend erklärt, von der Krise so übermannt worden zu sein, dass er einfach immer weiter gedreht hat. Na ja, Morgen kommen Kurzfilme. (fd)

Everybody make some Beuys!

Der Wettbewerbsbeitrag „Beuys“ vom Dokumentarfilmer Andres Veiel, der ausschließlich aus Archivmaterial kompiliert wurde, in Zahlen: 20.000 Fotos, 400 Stunden Videomaterial und 200 Stunden Audiomaterial hat das Team in der Recherche ausgewertet. Sechs Monate habe allein die Rechteklärung gedauert (die nach 15 Jahren erneut erfolgen müsste) und 18 Monate war der Film im Schnitt. Als diese Zahlen in der Pressekonferenz fallen, geht ein Raunen durch die Reihen der sonst so unbeeindruckten Journalisten.

Veiel legt das radikal offene Kunstkonzept von Joseph Beuys konsequent politisch aus. „Jeder Mensch ist ein Künstler, hat Beuys gesagt. Damit meinte er nicht: Jeder Mensch ist ein Bildhauer oder ein Maler, sondern jeder kann Gesellschaft mitgestalten“, erläutert der Regisseur. In dem Film geht es daher viel auch um den politischen Aktivisten Beuys, der zu den Gründungmitgliedern der Grünen zählte und als Professor an der Düsseldorfer Kunstakademie kulturpolitisch provozierte. Zum Beispiel, indem er gegen den Widerstand des Instituts in einem Jahr einfach alle Bewerberinnen und Bewerber in seine Klasse aufnahm. Dass es wenige kritische Stimmen zu Beuys gibt, beobachten einige Journalisten allerdings zu Recht. Veiels Film ist zweifelsohne eine Hommage, zeichnet einen Beuys mit Witz und Weitsicht. Liegt es vielleicht auch daran, dass es sein besonders depperter Popsong von 1982 nicht in den Film geschafft hat? (jpk)     

Fake-Film-Quiz (2)

Auf Festivals laufen schon mal Filme, die reichlich krude klingen. So wie die drei da unten. Wobei – von denen laufen nur zwei auf der Berlinale. Einen haben wir erfunden. Findet Ihr raus, welcher das ist? Die Auflösung kommt am Donnerstag, dann erscheint der dritte Teil des Fake-Film-Quiz. Und ja, genau, googeln gilt natürlich nicht.

Don’t Swallow My Heart, Alligator Girl! (Felipe Bragança, Brasilien 2017)

Der 13-jährige Joca kämpft um die Liebe zu dem geheimnisvollen Alligator-Mädchen Basano. Doch die Motorradgang von Jocas Bruder steckt im Bandenkrieg mit einer Gruppe Guaraní, der auch Basano angehört. Die bildgewaltige Romeo-und-Julia-Geschichte spielt vor dem Hintergrund aktueller Konflikte in der Grenzregion zwischen Paraguay und Brasilien.

Delhi ist nicht Delmenhorst (Anna-Katharina Steinhövel, Deutschland 2016)

Pia hat genug von Deutschland: Sie ist durchs Studium gefallen, ihr Freund fängt etwas mit ihrer Schwester an und ihre Eltern stehen kurz vor der Scheidung. Kurzerhand reist sie nach Indien und lernt dort den 13-jährigen Ajit kennen, der Mönch werden will. Schon bald entdeckt auch Pia ihre spirituelle Seite und eine Rückkehr in die Heimat rückt in weite Ferne.

God Johogoi (Sergei Potapov, Russland 2016)

Johogoi ist ein junger Pferdehirte aus einer ländlichen Gegend in Sacha. Er folgt dem Ruf des Pferdegottes und besucht zum ersten Mal das große Sommerfestival Ysyakh. Voller Begeisterung nimmt er an den dortigen Ritualen teil und hält unerschütterlich an dem Glauben fest, hier die Frau seiner Träume zu finden.

(jpk)

PS: Und hier noch die Auflösung von Teil eins: Der georgische Film ist erfunden.

Montag, 13.2.

Mut tut gut

Die beste Frage stellt eine junge Frau ganz zum Schluss. Auf der kleinen Bühne sitzt der niederländische Regisseur Paul Verhoeven neben US-Schauspielerin Maggie Gyllenhaal – schweigend. Die Beine übereinandergeschlagen, Wasserflaschen neben sich, das Scheinwerferlicht im Gesicht. Bei den Talents, dem Nachwuchscampus der Berlinale, sollen sie über Mut sprechen. Beide suchen nach der richtigen Antwort auf eine für diese Berlinale offensichtliche Frage: „Müssen Filme politisch sein?“

Als Meryl Streep im Januar mit ihrer „Golden Globe“-Rede den neuen US-Präsidenten Donald Trump kritisierte, brachte das eine wichtige Debatte in Gang. Sollen sich Schauspieler überhaupt in der Öffentlichkeit zu politischen Fragen äußern? Gleich solidarisierten sich zig Kollegen mit Streep, die Trump kurz darauf, ähnlich wie zuvor die Schauspieler der US-Sendung „Saturday Night Live“, über seinen berüchtigten Twitter-Account als „überschätzt“ bezeichnete.

„Meine Kinder träumen von Trump“ (Maggie Gyllenhaal)

Für Maggie Gyllenhaal stellt sich die Frage nicht – sie engagiert sich bereits. Wie viele Promis twittert auch sie gern, postet aber nicht die üblichen Promo-Posts, sondern tweetet und retweetet immer wieder Statements und Artikel gegen Trump. Mit Tausenden anderen Frauen war sie Teil des „Women’s March“ gegen den neuen US-Präsidenten.

Nun soll Gyllenhaal bei den Berlinale-Talents über Mut reden. Gemeinsam mit Jury-Präsident Paul Verhoeven. Doch schnell zeigt die Veranstaltung eines: Für interessante Antworten braucht es auch interessante Fragen. Und Moderator, Filmjournalist und -historiker Peter Cowie arbeitet sich lieber eine Stunde lang an der filmischen Biografie der Künstler ab.

Es geht also erst mal um Promo: Wie war es, in diesem Film mitzuspielen? Wie war die Arbeit mit jenem Regisseur? Namedropping. Set-Anekdoten. Videos von Szenen auf einer Leinwand. Die beiden Gäste sind charmant und höflich und nett, aber mutig?

Nur sehr langsam nähert sich der Moderator auch politischen Rollen. So fragt er Paul Verhoeven nach seinem Film „Black Book“, in dem er die Niederländer mit ihrer eigenen Nazivergangenheit konfrontiert. Oft verlaufen die Antworten aber ins Leere, bevor es konkret wird. „In den Niederlanden gibt es schon viele Filme zu diesem Thema. Mein Film ist also nicht so provokant“, sagt Verhoeven. Auch hier hakt Cowie nicht nach – das einzig Mutige auf der Bühne bleiben seine knallroten Socken.

„Das, was zurzeit in der Politik passiert, wird uns noch die nächsten fünfzehn Jahre beschäftigen“ (Paul Verhoeven)

Dabei soll diese Berlinale doch so politisch sein. Ähnlich bleibt es bei Gyllenhaal: In einem ihrer ersten großen Rolle in „The Dark Knight“ spielt die Schauspielerin, die gegen Verbrechen vorgehende Anwältin Rachel. In „The Honourable Women“ gibt sie die Leiterin eines Rüstungskonzerns, die sich in den Nahostkonflikt einmischt. In „Schräger als Fiktion“ spielt sie eine tätowierte Bäckerin, die ihrem Finanzprüfer lauthals hinterherruft: „Du Steuerpenner!“

Aber keine Fragen zur Courage dieser Rollen. Das muss das Publikum im Q&A übernehmen. Zum Schluss kommt dann diese offensichtliche, diese dringende Frage – und siehe da, es folgen prompt zwei kluge Antworten.

Zuerst greift Gyllenhaal zum Mikro: „Ich glaube, Filme arbeiten immer mit dem Unterbewusstsein. Und politische Notfälle, wie wir gerade einen in den USA erleben, sind ständig ins unseren Gedanken. Meine Kinder etwa träumen mittlerweile von Trump. Was uns so sehr beschäftigt, wird zwangsläufig im Film transportiert, selbst wenn die Story nicht explizit politisch ist. Pauls Film ‚Elle‘ zum Beispiel handelt von einer Frau über 60, die missbraucht wird und stark bleibt, die einen Weg finden muss, damit umzugehen. Das ist politisch.“

Paul Verhoeven sagt daraufhin: „Wenn politische Inhalte für einen Film zum Zwang werden, ist das zu diktatorisch. Wir müssen nicht jedes aktuelle politische Thema direkt in einem Film verarbeiten. Wir sollten uns Zeit lassen, um angemessen zu reagieren. Das, was zurzeit in der Politik passiert, wird uns noch die nächsten 15 Jahre beschäftigen.“ (cs)

Fotos: Matt Carr, Lex de Meester

Medienkunstwerk statt Pressekonferenz

Schon doof: Da ist man als Journalist extra nach Berlin gekommen, um die großen Namen bei der Pressekonferenz zu sehen, und dann ist der Raum einfach voll. Aber zum Glück wird sie im Pressezentrum auch auf Fernseher übertragen und wenn man sie da mit dem Smartphone oder Tablet abfilmt, dann merkt daheim sicher niemand, dass man selbst gar nicht im Raum war... (mbr)

Foto: Michael Brake

Wie politisch darf’s denn sein? (2)

„Ich bin sehr skeptisch, was das Potenzial von Filmen anbelangt, Dinge in unserer Gesellschaft zu verändern“, sagt João Moreira Salles, als er seinen Dokumentarfilm „In the Intense Now“ („No Intenso Agora“) vorstellt. „Aber das muss nichts Schlechtes sein. Ich bin vielmehr überzeugt, dass Filmemacher, die nicht so sehr an die Macht ihrer Bilder glauben und deren politischen Gehalt mehr hinterfragen, meistens die besseren Filme machen.“

Den politischen Gehalt der Bilder hinterfragen – wie das geht, führt der Regisseur in seinem Film vor. So sehen wir zu Beginn den Amateurfilm einer brasilianischen Familie aus den 60er-Jahren: Ein Kleinkind (der Regisseur selbst?) macht auf einem Bürgersteig seine ersten Schritte. Es bekommt ein wenig Hilfestellung und stapft dann unsicher in Richtung Kamera. „Was bloß nach den ersten Schritten eines Kindes zur Freude seiner Eltern aussieht, erzählt nebenbei auch etwas über Klassenverhältnisse im Brasilien der 60er-Jahre“, hört man Salles auf der Tonspur. Die afrobrasilianische Nanny der Familie, so erklärt das Voice-over, als der Clip ein zweites Mal gezeigt wird, gehe bewusst aus dem Bild, als das Kind allein zu laufen beginnt. „Sie gehört nicht zur Familie, hat keinen Platz in ihrem Erinnerungsbild und verschwindet absichtlich in der Menge der Passanten.“

Solche Reflexionen ziehen sich kontinuierlich durch den Film „In the Intense Now“, der das Bildmaterial von gesellschaftlichen Umbrüchen in den 60ern, vor allem aus dem Pariser Mai 68, kritisch und dennoch mit Faszination für die Revolte untersucht. Die Methode hat Salles offensichtlich – auch er selbst spricht das an – vom deutschen Filmemacher Harun Farocki. Dass Salles’ Film mit dem berühmten Clip „Arbeiter verlassen die Fabrik“ (1895) der Lumière-Brüder endet, ist also keine Überraschung – auch Farocki hat sich den Film genau angeschaut: (jpk)

Sonntag, 12.2.

Alternative Fakten und Fake-Filme

Jetzt sind auch die alternativen Fakten auf der Berlinale angekommen. Und zwar um ziemlich genau 17 Uhr am Samstag im Kino International, Premiere von „Mein wunderbares Westberlin“ von Jochen Hick. Die sehr sehenswerte Doku erzählt die Geschichte der Westberliner Schwulenbewegung ab den 1960er Jahren bis zur Wende. Hauptrollen spielen der Kampf gegen den Paragrafen 175, der sexuelle Handlungen unter Männern unter Strafe stellte, und gegen die Immunschwächekrankheit Aids. Im Publikum: praktisch die gesamte Berliner Schwulenprominenz inklusive dem ehemaligen Berliner Bügermeister Klaus Wowereit und Filmemacher Rosa von Praunheim (mit rotem Hut und rosa kariertem Sakko). Und was sagt der Moderator vor Beginn der Vorstellung: „So viele bekannte Gesichter! Wie schön. Ich muss wirklich sagen: Ihr habt Euch überhaupt nicht verändert!“

Leider nicht ins Reich der alternativen Fakten sondern zu den neuen Realitäten gehört das, was Rosa von Praunheim im Anschluss an die Vorstellung sagte. Es sei wieder wichtig für Schwule für ihre Rechte zu kämpfen. So wichtig, wie schon lange nicht mehr.

Einen ganz konkreten Vorschlag brachte dann auch gleich Gerhard Hoffmann vor, der das Café Anderes Ufer, das Lesbischschwulen-Straßenfest und das Magazin „Die Schwuchtel“ mitinitiierte und für sein Engagement mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt wurde. Es bräuchte ein Archiv für alle Filme, die für den Teddy nominiert waren. Den queeren Filmpreis gibt es seit 1987. Nach wie vor ist er der einzige LGTBQ-Filmpreis auf einem A-List-Festival. Vielleicht könne Klaus Lederer, der amtierende Berliner Kultursenator, dafür ja Geld locker machen. Der saß nämlich auch im Publikum.

Atomare Bedrohung (2)

Nachdem wir bereits am Samstag vom Experimentalfilm „The Bomb“ berichteten, der zu einem Live-Soundtrack der Electronica-Group The Acid die atomare Zerstörungskraft ins Bild setzt, fügt die Berlinale dem Thema heute noch ein neues Kapitel hinzu. Oder besser gesagt: ein altes.

In der Retrospektive, die sich in diesem Jahr dem Science-Fiction-Genre widmet, läuft der sowjetische Film „Letters from a dead Man“ (Pisma mjortwowo tscheloweka) von 1986, dem Jahr von Tschernobyl. Gerade in jenem Jahr muss der Film eine verstörende Vision gewesen sein, aber auch heute noch beeindrucken die gigantischen Sets einer wüsten Welt nach der atomaren Apokalypse: Mit Gasmasken bekleidet schleppen sich die letzten Überlebenden bei Wind und Wetter durch Berge von Autowracks, Schutt und Leichen, um das Nötigste auf dem Schwarzmarkt zu besorgen. Während der Sperrstunden, die das Katastrophenregime im „Zentralbunker“ verhängt, warten sie in Schutzhöhlen unter der Erde auf das Ende ihrer Tage und betrauern eine Menschheit, die an ihrem Hochmut zugrunde geht. So düster das klingt, ist der Film in seiner elegischen Bildsprache dennoch zutiefst humanistisch. Am Ende zitiert er gar das sogenannte „Russell-Einstein-Manifest“ von 1955, mit dem die Wissenschaftler die Menschheit vor der atomaren Vernichtung warnten.

Der Atomkrieg im Film ist übrigens – damals wie heute denkbar – bloß ein fatales Missverständnis gewesen. „Menschliches Versagen“, wie es im Nachrichtenjargon so schön heißt. (jpk)

Foto: DEFA-Stiftung / Nikolai Pokoptsew

Fake-Film-Quiz (1)

Die Berlinale hat ein Herz für Außenseiter und unter den 399 Filmen sind echt ein paar randständige Themen und Geschichten mit dabei. Wie zum Beispiel diese drei. Aber Vorsicht: Einer davon ist gar nicht echt, den haben wir erfunden. Findet Ihr raus, welcher der Fake Film ist? Die Auflösung gibt’s in der nächsten Runde am Dienstag.

Back for Good (Mia Spengler, Deutschland 2017)

Reality-TV-Sternchen Angie muss nach ihrem Drogenentzug wieder zu ihrer Mutter ziehen. Als die einen Zusammenbruch erleidet, hat Angie plötzlich ihre pubertierende Schwester an der Backe, dabei will sie einfach nur wieder zurück ins Fernsehen.

El mar la mar (Joshua Bonnetta, J.P. Sniadecki, USA 2017)

Die Sonora-Wüste zwischen Mexiko und den USA: 16mm-Aufnahmen von Vegetation, Wetterphänomenen, Tieren, Menschen und ihren Spuren verbinden sich mit einer vielstimmigen Tonspur zum Panorama einer hochgradig politisierten Landschaft.

Ch’ven vart’ dove (Wir sind wie Tauben, Davit Revishvili, Georgien 2016)

Der Sommer ist heiß in den Straßen von Tiflis. Während die junge Nino an ihrem Traum arbeitet, in Paris zu studieren, lebt ihr Freund Levan nur in den Tag hinein. Die Geschichte einer Entfremdung zeigt den Aufbruchswillen und die Orientierungslosigkeit der ersten postsozialistischen Generation Georgiens.

(mbr)

Couchkino (2)

Für alle Ticketlosen, Berlinfernen, Kälteempfindlichen oder aus sonstigen guten Gründen auf der Couch-Bleibenden hier wieder ein cooler Kurzfilm aus den Weiten des Internets. „Cracked Screen“ von Trim Lamba ist eine Snapchat-Doku über den Druck, sich in den sozialen Medien zu inszenieren und die dunkle Seite des Voyeurismus, den das auslöst. 

Samstag, 11.2.

Explosiv und ziemlich laut

Zwei der größten Bedrohungen der Menschheit sind: der Klimawandel und Atombomben. Doch während alle Welt über das Klima spricht, ist die Gefahr der rund 15.000 weltweit vorhandenen Atomsprengköpfe seit dem Ende des Kalten Krieges aus dem Fokus geraten. Das sagt der amerikanische Journalist, Drehbuch- und Theaterautor Eric Schlosser am Freitag im Haus der Berliner Festspiele. Er hat ein Buch über die Atomwaffenarsenale der USA geschrieben, „Command and Control“, war damit für den Pulitzerpreis nominiert.

Auf das Buch folgte der Experimentalfilm „The Bomb“, der am Freitag mit prominenter Live-Musikbegleitung der Electronica-Supergroup „The Acid“ gezeigt wurde. Zig Stunden Videomaterial, vieles davon „declassified“, also erst vor kurzem von der US-Regierung freigegeben, wurden von Regisseur Kevin Ford und der Videokünstlerin Smriti Keshari bearbeitet und auf 60 Minuten verdichtet, ohne Kommentar, fast ohne Erklärungen, ein hochästhetisches Bildgewitter.

Man muss ja leider zugeben, dass es kaum etwas Hypnotischeres gibt als eine Atombombenexplosion. Auch die chinesischen und indischen Militärparaden sind beeindruckend, die Bilder von Zuschauern von frühen Atombombentests und die Zeitlupenansichten von Testgebäuden, die von der Bombendruckwelle hinweggefegt werden. Es gibt putzige US-amerikanische Volksaufklärungsvideos für den nuklearen Ernstfall („Duck and Cover“), und Aufnahmen vom „Manhattan Project“, dem Bau der ersten Atombombe in den 1940er-Jahren, die eher so aussehen wie ein Feriencamp von Bastlern.

Doch keine Sorge, das Kontrastmaterial kommt auch vor: die unfassbaren Zerstörungen von Hiroshima, das Leiden seiner Bewohner, in Bildern und Zeichnungen, zeigen das wahre Gesicht der Bombe.

Ein Ziel des Films, erklärt Smriti Keshari in der anschließenden Diskussion, ist, eine „emotionale Verbindung zum Thema zu schaffen“. Denn weil Atomwaffen nicht sichtbar seien, nehme sie auch fast niemand mehr als Bedrohung wahr. Dabei werde in der Welt aktuell wieder nuklear modernisiert und aufgerüstet und es wurde gerade erst, kurz nach der Wahl Donald Trumps, die Doomsday Clock um eine halbe Minute näher an zwölf Uhr gestellt. Der sehr dramatisch auftretende Eric Schlosser erinnert daran, dass auch in Deutschland Atomsprengköpfe stationiert sind, uns alle das Thema also angehe und, überhaupt: „Ich will nicht zu freudianisch erscheinen, aber in der menschlichen Natur liegt ein Todeswunsch. Und Atomwaffen sind die Manifestation dieses Todeswunsches.“ (mbr)

Mehr Infos über das Projekt gibt es hier.

Laberflash oder Charmeoffensive?

Zu einer guten Berlinale-Premiere gehört, dass der Regisseur nach dem Film auf die Bühne vor der Leinwand kommt, ein paar nette Worte sagt und die anwesenden Leute aus seinem Team vorstellt. Das kann man natürlich ganz unterschiedlich machen: Jakob Lass, mit „Tiger Girl" im Panorama dabei, kam am Freitagabend hochaufgekratzt nach oben gejoggt und bot einen zehnminütigen Laberflash mit vielviel Drama.

Wenig später war dann Danny Boyle, mit seinem Trainspotting-Nachfolger „T2" außer Konkurrenz im Wettbewerb dabei, an der Reihe. Er zeigte viel britische Klasse und bedankte sich erstmal bei diesem „großen europäischen Festival“, dass er als Brite überhaupt noch eingeladen wird. Ein schöner Seitenhieb auf den Brexit, die Lacher waren Boyle sicher. (mbr)

T2 Trainspotting verwaltet den Kult

Lacher gab es während der Vorstellung auch schon viele. Was im Zuschauerraum zu spüren war: das Original aus dem Jahr 1996 sitzt tief im kollektiven Gedächtnis. Warum?

"T2" macht sich das zunutze, indem er Motive, Stilmittel, Schauplätze und Songs des ersten Films zitiert. Toilettenschüsseln, George Best, die schottischen Highlands, „Born Slippy" – all das spielt auch 20 Jahre später noch eine Rolle im Leben der Protagonisten Renton, Spud, Sick Boy und Franco, deren skurrile Charakterzüge im Sequel lebendig bleiben. Wenn Renton in seinem Kinderzimmer mit Lokomotiv-Tapete steht, eine Schallplatte auflegt und nach einem halben Takt von „Lust for Life“ den Song irritiert wieder abstellt, lacht der halbe Kinosaal. Man war schon in den Groove gekommen. Aber auch wenn Boyle und Drehbuchautor John Hodge versuchen, ihren Kosmos in die Gegenwart zu übersetzen, verwalten sie hier vor allem ihren eigenen Kult. Nirgendwo wird das so deutlich, wie in der aktualisierten Version des "Choose Life"-Monologs, den Renton in der Mitte des Films auf 2017 überträgt. Warum das heute „keinen Nerv trifft", hat der Guardian in einem klugen Vergleich der beiden Szenen analysiert. (jpk)

 

#Wir wollen alle sehen

Bilder schaffen Wirklichkeit. Und Filme erst recht. Besonders wichtig ist deshalb, dass Menschen mit Behinderungen im Film überhaupt vorkommen. Tun sie nämlich nur sehr selten. Damit sich das ändert, dafür setzt sich die NGO Rollenfang ein, die dazu beitragen will, „ein authentisches, vielfältiges Bild unserer Gesellschaft zu präsentieren und zu leben“, wie es in der Charta heißt. Denn nur was gezeigt wird, wird auch wahrgenommen. Und was macht Rollenfang zur Berlinale? Klar, sie geben Tipps für Filme, in denen Menschen mit Behinderung vorkommen. Jeden Tag. Und zwar hier. (fd)

Im Kino gewesen. Geschlafen

Kann man bei einer Filmvorführung einschlafen und trotzdem begeistert sein? Man kann. Mir ist es passiert bei 2+2=22 [THE ALPHABET] von Heinz Emigholz: Abwechselnd zeigt der Film Straßenszenen und Stadtansichten aus Georgiens Hauptstadt Tiflis, unterlegt mit essayistischen Texten, und die Düsseldorfer Avantgardeband Kreidler, die in einem Tonstudio in Tiflis ihr neues Album einspielt. Man muss ihre treibende, repetitive, von Elektronika und Rhythmus befeuerte krautrockhafte Musik mögen, um mit dem Film klarzukommen. Ich jedenfalls will jetzt auf ein Kreidlerkonzert. Und nach Tiflis sowieso. (mbr)

Freitag, 10.2.

Happy Birthday, Generation

Gestern startete die Berlinale, heute die Sektion Generation. Und die feiert dieses Jahr einen runden Geburtstag: Zum 40. Mal gibt es ein spezielles Filmprogramm für Kinder und Jugendliche. Das ist oft überraschend, meist anspruchsvoll und manchmal auch bisschen anstrengend.

Acht Gründe, warum das gefeiert werden muss:

1.

Weil unter 18-Jährige sonst auf der Berlinale draußen bleiben müssten. Dabei ist sie doch so stolz, das weltgrößte Publikumsfestival zu sein. Doch weil bei den meisten Filmen keine Zeit mehr für eine Alterseinschätzung durch die FSK bleibt, wird für die meisten Sektionen 18 pauschal als Altersgrenze festgelegt.

2.

Weil das Angebot angenommen wird: Über 65.000 Menschen besuchten die Vorführungen im letzten Jahr. Und über 2.000 Filme wurden eingereicht, von denen es 62 Beiträge aus 41 Ländern zur Berlinale geschafft haben.

3.

Weil Jugendliche ernst genommen werden. Gezeigt wird nicht Klischeequatsch wie „Die wilden Kerle“ oder „Bibi und Tina“, sondern Auseinandersetzungen auch mit Themen wie Tod und Trennung. Ok, manchmal übertreibt die Generation bisschen mit ihrem Relevanzkino, es sind schon viele Filme arg problemorientiert. Die grundsätzliche Haltung ist aber sehr löblich. „Wenn ein Film ins Kino kommt, geht es darum: Wie wird er verkauft, wie wird er gelabelt“, sagt Maryanne Redpath dazu, die die Sektion seit 2008 leitet. So entstehe eine künstliche Trennung von Kinder- und Erwachsenenfilm. „Bei uns gibt keinen Deckel“, sprich: das Programm ist alterstechnisch nach oben offen. Bestes Beispiel: Der Auftaktfilm „On The Road“ über die Englandtournee von Wolf Alice, der vom etablierten „Erwachsenen“-Regisseur Michael Winterbottom stammt.

4.

Weil man hier nicht nur gucken, sondern auch mitreden kann: Wie in allen Berlinale-Bereichen sind die Filmemacher da, um nach den Filmen Rede und Antwort zu stehen.

5.

Weil man hier nicht nur gucken, sondern auch mitentscheiden kann: Über die Verleihung der Gläsernen Bären bestimmen eine siebenköpfige Jugendlichenjury (14plus) und eine elfköpfige Kinderjury (Kplus).

6.

Weil die hier der Blick geweitet wird. Eine Stärke der Sektion war immer, dass sie Filme auch aus Ecken dieser Welt bringt, die nicht so häufig auf Festivals und schon gar nicht regulär in die Kinos kommen. Wo bekommt man schon mal einen lettischen Kurzfilm, eine norwegisch-portugiesische Coproduktion oder einen Spielfilm aus Burkina Faso zu sehen? Und siehe da: So unterschiedlich sind die Probleme von den jungen Leuten da auch nicht wie bei uns.

7.

Weil es 37 Weltpremieren gibt.

8.

Weil das Programm eine Achterbahn sein wird. Die Filme seien „manchmal stringent, manchmal abstrakt, oft nicht linear; viele herausfordernde Filme, wahnsinnige Filme“, verspricht Maryanne Redpath. Mit anderen Worten: Man kann auch mal ziemlichen Quatsch sehen, aber langweilig wird es nicht. Beispiel? Das Filmmusical über die Liebe eines australischen Emos zu einer streng gläubigen Mitschülerin. Als kleiner Teaser hier der Kurzfilm, aus dem das Musical entstanden ist. Und der hatte seine Premiere - natürlich in der Generation. (mbr)

Und hier das komplette Programm der Generation.

Aufkommende Awareness für Müllirrsinn von Einwegbechern

Zur kostenlosen und stadtbildprägenden Berlinale-Tasche gibt es für Journalisten dieses Jahr einen kostenlosen Aluminiumbecher mit Schraubdeckel dazu, dem Kaffeesponsor der Berlinale sei dank. Ein „To-Go-Cup“ also, sehr zeitgemäß in Zeiten aufkommender Awareness für Müllirrsinn von Einwegbechern. Und, siehe da: an den Kaffeestationen im Pressebereich bekommt man seinen Kaffee auch nur, wenn man seinen Becher dabei hat. Das ganze wäre nun ökologisch noch vorbildlicher, wenn der Kaffee nicht aus Aluminiumkapseln gewonnen würde.

Update

Nur wenige Stunden sind vergangen, da geben sie auch Pappbecher aus. Journalistenzufriedenheit geht über Umweltfreundlichkeit. (mbr)

Couchkino (1)

Große Dramen gibt es bei der Berlinale nicht nur auf der Leinwand, sondern auch an den Ticketschaltern. Zwar zählt die Berlinale jedes Jahr über 500.000 Besucher. Schaut man in die nervösen Gesichter der Wartenden und die enttäuschten Mienen derjenigen, die wieder mal leer ausgingen, dann könnte man gut und gerne meinen, dass da auch drei mal so viele hingehen würden, wenn es denn genug Karten geben würde. Für alle also, die wieder mal kein Ticket abbekommen haben, hier etwas Tolles, das man ganz bequem und von zu hause anschauen kann.

In seinem Essayfilm „Not another camelot“ untersucht Kevin B. Lee die amerikanischen First Ladies von Jackie Kennedy bis Melania Trump. Das ist lustig, aber auch etwas bedrückend und ziemlich beige...

Ein kluges Porträt über Lee hat Andreas Busche im Tagesspiegel geschrieben.

Donnerstag, 9.2.

Sind politische Filme auch gute Filme?

„Wollen wir ins Kino gehen, ein bisschen träumen?“ Als Django Reinhardt diesen Satz zu seiner Geliebten Louise sagt, ist Paris von den Nazis besetzt und ihm, dem begnadeten Jazz-Gitarristen, droht als Sinto die Deportation. Es gibt 1943 nicht viele Orte, an denen einer wie er noch träumen kann, wie „Django“, der Eröffnungsfilm der 67. Berlinale, die heute beginnt, eindrücklich erzählt. 

Die Berlinale hat gerade eine Menge Konkurrenz. Wer auf Politthriller und Justizdramen steht, muss nicht ins Kino. Auch das Horrorgenre wird täglich in den Nachrichten bedient. Aber gerade deshalb lohnt es sich jetzt, einen Blick auf die 399 Filme zu werfen, die ab heute in den nächsten elf Tagen auf den Filmfestspielen zu sehen sein werden. Viele öffnen den Blick und helfen, den täglichen Nachrichtenstrom einzuordnen.

Manche Filme gehen dafür einen Schritt zurück. „Der junge Karl Marx“ etwa, ein Biopic von Raoul Peck, das danach fragt, wie politische Utopien entstehen, läuft im Wettbewerb. „Schwarze Welten“, ein Schwerpunktthema im Panorama, zeigt viele Filme, die die Geschichte der Rassendiskriminierung erklären. Wer die Black Lives Matter-Bewegung verstehen will, kommt um Filme wie „For Akheem“, „Strong Island“ oder „I am not your negro“ nicht drum herum. Die queeren Filme haben ohnehin ihren festen Platz in der Berlinale und das schon seit Jahrzehnten. Immerhin ist man das erste A-List-Festival, das mit dem Teddy einen eigenen Preis für LGBTQ-Filme auslobt.

Viel Wirklichkeit

Zu den Schwerpunkten dieses Berlinale-Jahrgangs gehört auch der Dokumentarfilm, der in den letzten Jahren einen steilen Aufstieg erlebt hat und für den erstmals ein eigener Preis verliehen wird. Letztes Jahr gewann eine Doku sogar den Wettbewerb, der durchaus umstrittene „Fuoccoamare“ (Seefeuer) von Gianfranco Rosi, der von der Mittelmeer-Insel Lampedusa erzählt, wo zahllose Flüchtlinge aus Afrika ankommen – und längst nicht alle lebendig.

Welche Filme werden dieses Jahr für Aufregung sorgen? Und welche die Augen öffnen? Wir werden in den nächsten Tagen in diesem Blog nach der politischen Seite der Berlinale Ausschau halten. Und wir werden fragen, wie viel Politik dem Kino überhaupt guttut. Darüber kann man nämlich sehr gut streiten. Und etwas zum Träumen, das werden wir bestimmt auch mal finden. (fd)

Wie politisch darf's denn sein?

Über die Berlinale diskutiert wird schon, da hat sie noch gar nicht angefangen. Und zwar am Mittwochabend im Silent Green Kulturquartier im Wedding. „Lost in politics“ heißt die Auftaktveranstaltung der „Woche der Kritik“, einer von der Berlinale unabhängigen Film- und Debattenreihe, die als konstruktives Störgeräusch zum dritten Mal die Festivalwoche begleitet.

Politische Filme, politisches Festival?

Als sich die Berlinale-Filme im letzten Jahr verstärkt den Themen Flucht und Asyl annahmen, waren sich die Medien zumindest in einem Punkt einig: Die Berlinale sei 2016 „politischer denn je“ (rbb) gewesen und habe „wieder einmal politische Geistesgegenwart“ (FAZ) bewiesen. Dieser Meinung war auch Matteo Renzi, damals noch Italiens Ministerpräsident, der ankündigte, seinen Kolleginnen und Kollegen in der EU bei nächster Gelegenheit eine DVD des Gewinnerfilms zu überreichen. „Und nachdem sie ihn gesehen haben, wird es vielleicht möglich sein, anders über Migration zu sprechen.“

Das Festival und sein Gewinnerfilm wurden also von verschiedener Seite gelobt dafür, politisch zu sein. Aber was heißt das eigentlich: Ein Film ist politisch? Für Frédéric Jaeger und Nino Klingler von der „Woche der Kritik“ ist das eine Zuschreibung, die das Politische in den Filmen (und genauso im Festival) meist auf die Themen reduziert. Filme mit einem vordergründig politischen Thema und einer – zum Teil durchaus unbequemen – Message, der die filmischen Ausdrucksmittel untergeordnet würden. Der politische Inhalt der Filme unterdrücke ihre Form. Filmausschnitte preisgekrönter Kinofilme der letzten Jahre rufen die Dominanz des politischen Kinos auf den Festivals in Erinnerung: Das Arbeitslosendrama „I, Daniel Blake“ (2016) von Ken Loach, der französische Flüchtlingsthriller „Dämonen und Wunder“ (Dheepan, 2015) von Jacques Audiard und natürlich „Fuoccoamare“ (2016). In letzterem sehen wir etwa einer italienischen Hausfrau beim Kochen zu, während zeitgleich namenlose Bootsflüchtlinge vor Lampedusa geborgen werden: „Die armen Seelen!“

Eine Frage der Ästhetik

Dass diese Filme Aufmerksamkeit schaffen und in Momenten auch eine schmerzhafte soziale Realität einfangen, will Klingler ihnen nicht absprechen. Aber sie hätten meist keine offenen Fragen mehr und würden Figuren und Dramaturgie vor allem als Funktionsträger ihrer politischen Aussage benutzen. Für „Fuoccoamare“ etwa trifft das durchaus zu: Als Zuschauer kann man sich regelrecht gegängelt fühlen – und die Kunst bleibt auf der Strecke, wenn ein Film zum Leitartikel wird. Dass es aber gar nicht so leicht ist, abseits der Themen das Politische im Kino zu benennen, zeigt die anschließende Podiumsdiskussion zwischen Film- und Fernsehschaffenden, Filmkritikern, einer Festivalmacherin und einem Wissenschaftler. Während für die einen eher die Filmproduktion (Finanzierung, Zensur), für die anderen eher die Rezeption und für wiederum andere „alles“ politisch ist – in einem ist man sich einig: Abseits der Themen haben Filme eine politische Ästhetik – egal, ob sie vordergründig politisch sind oder nicht. Aber sind das Filme, die durch ihre Ästhetik aufrütteln? Die Grenzen überschreiten? Die trösten? „Vielleicht hätte man vorher das Wort ‚politisch‘ definieren sollen“, ist die letzte Wortmeldung aus dem Publikum. Und so endet der Abend immerhin mit offenen Fragen statt mit vorgefertigten Antworten. (jpk)

Und was geht am Potsdamer Platz?

Vor dem Berlinale-Palast wird heute Vormittag der rote Teppich verlegt. Also „Teppich“, denn in Wahrheit sind es rote Kunststoffplatten, die wie Laminat aneinandergebaut werden. Hauptsache, die Illusion stimmt.

Die Trittleitern sind schon da, die Stars noch nicht. Fotografen haben ihre Arbeitsmaterialien mit Fahrradschlössern gesichert, klein auf den Leitern stehen die Agenturen. Es ist der Bereich neben dem Hyatt Hotel, wo die Schauspieler kurz vor den Premieren mit dem Auto abgeholt werden, Autogrammjäger warten hier mitunter mehrere Stunden. Am Vormittagtag des Berlinalestarts ist es noch leer. (mbr)

Erst ab 17.30 Uhr startet das alljährliche Rote-Teppich-Ritual. Für alle, die dafür nicht frieren wollen, hier der Livestream.

Und hier unsere Kritik zu „Django“.