fluter.de: Herr Weingartner, in Ihrem Film „303“ fahren Jule und Jan mit einem alten Campingbus von Berlin aus in den Süden. Daraus entwickelt sich Freundschaft, später so etwas wie Liebe. Warum ist Ihr Film ein Roadmovie geworden? Die beiden hätten sich ja auch in einem Café in Neukölln kennenlernen können.
Weil der Bus – übrigens mein eigener – eine Raumkapsel bildet. Das Unterwegssein schafft eine ganz eigene Welt. Die Zwänge des Alltags spielen keine Rolle mehr. Du kannst frei über Gott und die Welt diskutieren. Man unterhält sich einfach anders als in einem Café oder in einer WG-Küche.
Jule und Jan sind zwei Mittzwanziger. Die Figuren in Ihren Filmen „Die fetten Jahre sind vorbei“ (2004) oder „Das weiße Rauschen“ (2001) waren es auch. Warum immer dieses Alter?
Die Antwort ist in diesem Fall einfach. Ich habe mit dem Drehbuch angefangen, da war ich selbst noch 27 und hab mich dann mit dem Buch an der Filmhochschule beworben. Dann war ich 15, vielleicht sogar 20 Jahre nicht in der Lage, das Drehbuch zu Ende zu schreiben. Es ist brutal schwer, so lange Dialoge wie in „303“ zu verfassen, die natürlich klingen.
„303“ ist ein Dialogfilm, ähnlich wie die „Before Sunset“-Filme von Richard Linklater. Die Protagonisten lernen durchs Reden viel über sich und den anderen.
Damit das funktioniert, habe ich zwei Jahre lang gecastet. Ich habe mir 100 bis 200 Schauspieler in verschiedenen Kombinationen angesehen. Mala Emde und Anton Spieker – die beiden sind es am Ende geworden – verstanden als wenige die Figuren und die Dialoge. Das war mir wichtig. In Liebesfilmen gibt es oft dramatische Ein-Satz-Sätze wie „Ich liebe dich einfach nicht mehr!“. In meinem Film ist das anders, hier führen Jule und Jan längere Debatten über die Vereinzelungsstrategie im Kapitalismus und zwischenmenschliche Biochemie. Um das authentisch mit den Themen Partnerschaft und Liebe zu verbinden, müssen die Schauspieler verstehen, was sie sagen. Und viel proben.
Jule und Jan sind eher skeptisch der Liebe gegenüber, wie kommt das?
Zumindest der ewigen. Wir haben vor dem Film viele Mittzwanziger befragt. Wir haben gefragt, ob sie eine Beziehung haben, wann sie das letzte Mal verliebt waren, woran sie merken, dass sie verliebt sind, ob sie an die ewige Liebe glauben – übrigens zu 80 Prozent „Nein“. Die glauben noch an die Liebe, aber nicht mehr an die ewige, und vor allem, dass man sich trennen sollte, wenn es nicht mehr passt, wenn man sich nur noch hasst. Das ist doch ein riesiger Fortschritt!
Was meinen Sie damit?
Wir müssen uns mit dem Thema Liebe neu auseinandersetzen. Und mit den alten Beziehungsmodellen. Paare reden in Filmen oft so poetisch oder käuen die immer gleichen Liebesklischees wieder: Man sieht sich, man streitet sich, man bleibt für immer zusammen, Hochzeit, für immer glücklich. Das ist ja das, wovon 99 Prozent der Menschen träumen. Und woher haben die Leute diesen Schwachsinn – aus Hollywoodfilmen! Aber in der Realität funktioniert’s so ja nicht.
„303“ ist Ihr erster Liebesfilm.
Ja, komplett.
Wie funktioniert Liebe in Ihrem Film?
Es wird viel über Beziehungen gesprochen, über den Unterschied zwischen sexueller Attraktion und Seelenverwandtschaft. Auch in diesem Film gibt es Streit, aber er bestimmt nicht die Dramaturgie der Geschichte. Er sorgt für Nähe, dafür, dass sich die Charaktere einschätzen können. Entsteht daraus Liebe? Der Film lässt das weitgehend offen. Er gibt keine Antworten, er stellt vielmehr Fragen: Wie ist mein Verhältnis zur Monogamie? Suche ich einen Partner, mit dem ich ewig zusammen bin?
Ihr Film läuft auf der Berlinale in der Sektion „Generation“. Was macht die Generation in „303“ aus?
Ich habe letztens mal gegoogelt. Es gibt jetzt schon die Generation Z – das sind die totalen Instagram-Fanatiker. Und es gibt die Generation Y, das wären wohl meine Protagonisten. Bei jetzigen Mittzwanzigern geht es anscheinend viel darum, sich selbst finden zu müssen. Es gibt keine eindeutigen Vorgaben mehr von Großeltern oder Eltern. So im Sinne von: Meine Eltern waren Nazis, ich lehne mich gegen sie auf. Ich bin Punk oder Anti-Establishment. Mit dieser Unsicherheit umzugehen, sich selbst zu definieren, das überlasse ich ganz den Figuren, ich definiere die Generation nicht.
Christine Stöckel
Aufmarsch der Freizeitsoldaten
Selbstfindung scheint bei Peter Švrček kein Thema mehr, als rechtsnationalistischer Vorsitzender der militaristischen Jugendorganisation „Slovenski Branci“ offenbart er im Film „When the war comes“ ein bedrückend geschlossenes Weltbild. Für ihn sind Flüchtlinge eine Gefahr, ein Krieg nicht unwahrscheinlich. Daher versucht die Organisation Rekruten anzuheuern, um die "slowakischen Werte" zu schützen. Christine Stöckel hat den brisanten Dokumentarfilm gesehen – und war nicht über alle Regieentscheidungen von Jan Gebert glücklich. Hier geht’s zum Steckbrief.
Voll von gestern
Roter Teppich hin oder her, die großen Stars gestern waren eindeutig Rex, King, Duke, Boss und Chief. Die fünf vierbeinigen Hauptdarsteller aus Wes Andersons Animationsfilm „Isle of Dogs“ müssen manche haarige Situation meistern. Welche, das hat unser rappender Rezensent Damian Correa hier mal zusammengereimt:
Bei der Pressekonferenz zum Film redete vor allem einer: Regisseur Wes Anderson. Selbst als Koyu Rankin, der japanische Sprecher von Hauptfigur Atari (der übrigens seinen 11. Geburtstag feierte, was für ein unvergesslicher Geburtstag ist das bitte?), gefragt wurde, übernahm Wes Anderson den größten Teil der Antwort. Einmal aber stahl ihm Bryan Cranston, der im Film den Hund „Chief“ spricht, die Show: Er würde gern die Bedeutung von Stille für Cranstons Schauspiel verstehen, fragte ein Journalist. Cranston antwortete lautlos. Seine Lippen bewegten sich, doch kein Ton kam heraus. Der Journalist schrieb trotzdem fleißig mit.
(mbr)
Nahaufnahme auf den roten Teppich
Und dann war da noch die Eröffnungsgala, bei der mehr als sonst die Looks der Frauen im Vordergrund standen. Wie oft wurde als Protestzeichen gegen sexuelle Gewalt schwarz getragen? Senta Berger kam jedenfalls ganz in schwarz, Toni Garrn ganz in weiß. Tilda Swinton in schwarz-weiß. #MeToo auf der Berlinale? Ja, aber. Einen einheitlichen Soli-Dresscode – wie etwa bei den Golden Globes – gab es nicht.
Auch wenn die ganz große Geste fehlte, ging es in fast jedem Interview um #MeToo. Immerhin ist die Berlinale das erste große Festival seit den Harvey Weinstein-Enthüllungen. Dieter Kosslick verzichtete auf seinen roten Schal und wählte stattdessen einen schwarzen. Anna Brüggemann, die unter „#nobodysdoll“ zu einer selbstbestimmten Spielart der Schönheit auf dem Red Carpet aufrief, kam in Turnschuhen. Alina Levshin und Lavinia Wilson trugen Highheels und ebenfalls den „#nobodysdoll“-Button.
Von den internationalen Stars stammten bis auf Helen Mirren fast alle aus Wes Andersons Eröffnungsfilm „Isle of Dogs“: Jeff Goldblum, Liev Schreiber, Bryan Cranston, Greta Gerwig und Bill Murray, der, sobald das Wort #MeToo im Interview auch nur fiel, Reißaus nahm. Und dann war da natürlich noch Tilda Swinton, denn die ist immer da, und in diesem Jahr fand sie: „#MeToo ist sicherlich eine wichtige Debatte und es ist gut und richtig, dass wir sie führen, aber es ist nicht die einzige, und wir sollten andere Themen nicht vergessen. Wir schicken Leute weg, die kein Zuhause haben.“
Politisch wurde es auch auf der Eröffnungsfeier immer wieder. „Männer und Frauen in einem Raum, wir trau’n uns was!“, eröffnete wie Anke Engelke den Abend. Kulturstaatssekretärin Monika Grütters erinnerte an Marlene Dietrich, die damals im Hosenanzug ein neues Frauenbild propagierte. Es sei nun an der Zeit, „time’s up“, betonte Grütters, während der Applaus immer schwächer wurde.
Simone Ahrweiler
Und was am ersten Tag so los war auf der Berlinale? Das erfahrt ihr hier.