Einer der ungewöhnlichsten Dokumentarfilme der Berlinale erzählt vom Tal der Ahnungslosen. So nannte man jene Teile der DDR, in denen weder Westfernsehen noch -radio zu empfangen waren. Also ganz oben im Nordosten und im Südosten von Sachsen. Hier ist auch Neustadt, wo lange Jahre Landmaschinen produziert wurden, die jenes Weltniveau hatten, wie es sich die DDR so sehr wünschte. Wie so viele volkseigene Betriebe hat auch dieses Kombinat die Wende nicht überlebt. Zuletzt wohnten hier syrische Asylbewerber, die mit Sorge die rassistischen Demonstrationen und Übergriffe in der Gegend beobachten. Der Regisseur Florian Kunert bringt sie und ehemalige Werksarbeiter auf dem früheren Werksgelände zusammen, wo sie erstaunliche Gemeinsamkeiten entdecken.
fluter.de: In deinem Dokumentarfilm geben ehemalige Arbeiter des Kombinats „Fortschritt“ syrischen Geflüchteten eine Art selbstorganisierten Integrationskurs für die DDR. Wie bist du bitteschön auf diese Idee gekommen?
Florian Kunert: Das war schon vor drei Jahren. Ich hatte gerade an einem anderen Film gearbeitet, auf der Weihnachtsinsel bei Australien, da ging es mit Pegida los. Ich wollte wissen, warum das ausgerechnet in Dresden passiert. Ich bin ja in der Nähe aufgewachsen. Plötzlich wurde irrsinnig hitzig diskutiert und mich hat interessiert, was diese Diskussion mit der DDR-Vergangenheit zu tun hat. Das brachte mich zu dem Fortschritt-Werk, eine Ruine in meiner Heimatstadt Neustadt, in der damals syrische Asylbewerber untergebracht waren.
Was wurde denn in dem Werk ursprünglich hergestellt?
Das haben mich die Asylbewerber, die ich dort kennengelernt habe, auch gefragt: Wo sind wir hier überhaupt? Warum steht hier so eine riesige Ruine? Da musste ich selbst erst recherchieren: Das Kombinat Fortschritt war der größte Landmaschinenhersteller der DDR. 70.000 Menschen arbeiteten da in den 1980er Jahren. Die Mähdrescher, die sie dort herstellten, wurden auch nach Syrien exportiert.
Einer der ehemaligen Werkarbeiter aus Neustadt, die in deinem Film vorkommen, spricht sogar Arabisch.
Das hat mich auch überrascht. Der war sogar 15-mal in Syrien. Die DDR und Syrien verknüpfte sozusagen das sozialistische Band der Freundschaft. Ich habe auch während der Recherche erfahren, dass mein Onkel im Irak Mühlen gebaut hat. Die DDR war nicht nur abgeschottet. Allerdings musste man sich schon auf das System einlassen, um reisen zu können. Meinem Onkel wurde der Pass schnell wieder weggenommen, als er mal was Kritisches über die Arbeit gesagt hat.
Du bist 1989 in Neustadt geboren. Hast du eigene Erinnerungen an das Werk?
Nein. Nach 1989 wurde das ziemlich schnell abgewickelt. Ein paar Gebäude auf dem Gelände wurden noch genutzt, bis vor drei Jahren war ein Teil eine Asylunterkunft. Dann sind die Geflüchteten in einen Plattenbau umgezogen, der einst auch für Fortschritt-Arbeiter gebaut wurde. Mittlerweile sind die ruinösen Gebäude auf dem Gelände abgerissen.
Beide Gruppen – die Geflüchteten und die Ex-Werkarbeiter – haben gewissermaßen ihre Heimat verloren.
Den Bürgerkrieg in Syrien und das Ende der DDR kann man natürlich nicht vergleichen. Aber als Denkanstoß, um die Diskussion in ein neues Licht zu rücken, fand ich das einen interessanten Vergleich. Beide Gruppen haben etwas gemeinsam, es kursiert ja auch seit einiger Zeit die Theorie, dass die DDRler eine Migrationserfahrung gemacht haben, ohne sich räumlich zu bewegen.
In deinem Film kommt das so rüber, als seien beide Gruppen dankbar für die Begegnung.
Das habe ich auch so empfunden. Auf die Idee, beide Gruppen zusammenzubringen, bin ich überhaupt erst gekommen, weil es in Neustadt eine Initiative gab, die einen Deutschkurs für die Geflüchteten organisierte. Christian Tuschling, der ehemalige Werkarbeiter, der Arabisch spricht, konnte dabei mit seinen Sprachkenntnissen sehr helfen. Solche Engagements gibt es auch in Sachsen. Da sind nicht nur verschlossene Türen, wie es manchmal dargestellt wird.
Berühmt geworden ist Sachsen für seine Willkommenskultur aber nicht.
Nein, und ich möchte das auch nicht verschweigen. Der Film zeigt, wie ein Geflüchteter Schweinefleisch in seinem Briefkasten findet und mit einem Laser gemobbt wird. Es gibt Gründe, warum die Geflüchteten aus dem Film jetzt in der Nähe von Köln, also im Westen, leben. Und wir müssen uns damit beschäftigen, weil das Problem ja nicht weggeht. Im Osten gibt es viel mehr rassistische Überfälle pro Kopf als im Westen.
(fd)
Eisiges Schweigen
Nach dem einigermaßen gefühligen Start in den Wettbewerb mit „The Kindness of Strangers“ ging es gestern ziemlich zur Sache mit einem Film ganz auf der Höhe der Zeit. Mit „Grâce à Dieu“ hat François Ozon ein fast dokumentarisches Drama über sexuelle Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche gedreht, die das Erzbistum Lyon versucht hat zu verschweigen. Aktuell wird der Fall vor Gericht verhandelt. Was wiederum ein Problem für den Film werden könnte, denn der Anwalt des beschuldigten Priesters versucht den Kinostart am 20.2. zu stoppen.
Titelbild: tsb / Joanna Piechotta