Was passiert?
Im Frühjahr 1986 steht in Österreich die Bundespräsidentenwahl an, zu der drei Kandidaten und eine Kandidatin zugelassen sind. Das Staatsoberhaupt der Republik wird für eine Amtszeit von sechs Jahren direkt vom Volk gewählt. Vor dem ersten Wahlgang gilt der unabhängige, aber von der konservativen ÖVP unterstützte Kurt Waldheim als Favorit und setzt sich im Wahlkampf betont staatsmännisch in Szene: „Ein Österreicher, dem die Welt vertraut“, lautet der Kernspruch seiner Kampagne. Waldheim war nicht nur Außenminister, sondern von 1972 bis 1981 auch Generalsekretär der Vereinten Nationen. Einer, der für Völkerverständigung und Menschenrechte steht.
Wenige Monate vor der Wahl wird bekannt, dass Waldheim Mitglied eines Reiterkorps der SA und des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes war. In Österreich formiert sich eine Protestbewegung, in den USA strengt die NGO World Jewish Congress umfangreiche Recherchen zu Waldheims Kriegseinsätzen an, die den Kandidaten in Erklärungsnot bringen: Er sei kein Mitglied der NS-Verbände gewesen, beharrt Waldheim, habe bei seinen Einsätzen auf dem Balkan keine Kriegsverbrechen oder Deportationen miterlebt, sondern bloß „meine Pflicht erfüllt wie Hunderttausende Österreicher auch“. Große Teile der Bevölkerung solidarisieren sich mit Waldheim – und zur Stichwahl plakatiert die ÖVP einen neuen Slogan: „Jetzt erst recht!“
Was zeigt uns das?
Zum einen zeigt der Dokumentarfilm am Beispiel der Waldheim-Affäre das tief gespaltene Verhältnis der Österreicher zur Rolle ihres Landes im Nationalsozialismus. Der Mythos vom „ersten Opfer der Nazis“ war 1986 noch fest verankert. Eine Aufarbeitung der Vergangenheit scheuten große Teile der Gesellschaft. „Wir waren anständig“, ruft Waldheim den Massen auf dem Stephansplatz zu und erntet begeisterten Applaus.
Zum anderen zeigt der Film, wie sich in kontroversen Debatten der mediale Diskurs verschiebt, wie es auf ähnliche Weise nun in Österreich und auch in Deutschland zu beobachten ist. Fake News 1986: Damals gelang es der ÖVP, die Kritik an Waldheim öffentlichkeitswirksam als Angriff auf die Ehre der Nation darzustellen – verübt durch eine „kleine, aber einflussreiche Gruppe aus dem Ausland“. Das mobilisierte nationalistische und antisemitische Aggressionen, die sich, wie der Film zeigt, auf der Straße entluden.
Wie wird’s erzählt?
„Waldheims Walzer“ ist ein Kompilationsfilm. Ruth Beckermann verwendet ausschließlich historisches Bildmaterial aus TV-Archiven sowie Aufnahmen, die sie selbst als junge Frau mit einer Videokamera drehte: auf den Straßen Wiens, bei Wahlkampfauftritten und Protestaktionen. Die Regisseurin war seinerzeit von Beginn an Teil der Bewegung, die Waldheim zum Rücktritt aufforderte und sich gegen Antisemitismus positionierte.
Good Job!
Die Recherchearbeit, die spannendes Material aus der Zeit zutage fördert, verdient ebenso eine Würdigung wie die Montage, welche die Interviews, Straßenszenen, Wahlkampfauftritte und Nachrichtenbeiträge in eine übersichtliche chronologische Ordnung bringt. Beckermann leitet dabei mit einem Voice-over-Kommentar durch den Film, der die eigene Beteiligung und das selbst gedrehte Material reflektiert, aber meist angenehm nüchtern bleibt. Ihr gelingt das Kunststück, in einem persönlichen und politischen Film weder zu häufig noch zu selten „ich“ zu sagen.
Stärkster Satz
„Wir nehmen zur Kenntnis, dass er nicht bei der SA war, sondern nur sein Pferd bei der SA gewesen ist.“ Fred Sinowatz, damaliger SPÖ-Bundeskanzler, über Waldheims Weigerung, seine offenkundig belegte SA-Mitgliedschaft zuzugeben.
Ideal für …
… alle, die am Beispiel von Waldheims Diskursgymnastik etwas über „österreichische Geschmeidigkeit“ (Beckermann) lernen wollen. Mal im Ernst: Geschichtspolitik, Rechtsruck und Antisemitismus sind kein special interest. Wer sich damit auseinandersetzt, findet in Beckermanns Film Denkanstöße, die weit über den historischen Fall hinausweisen.