Am 12. August 2015 erteilt das Europäische Patentamt ein Schutzrecht mit der Nummer EP 1515600. 18 Seiten umfasst die Patentschrift, fünf Entwickler sind verzeichnet, ihre Innovation: eine Tomate. Rot wie fast alle Tomaten. Rund wie fast alle Tomaten. Was sie von den anderen Tomaten unterscheidet: Sie enthält besonders viel Flavonol, ein angeblich krebsvorbeugender Inhaltsstoff. Von nun an gehört sie dem Agrarkonzern Syngenta aus Basel.

Diese Tomate ist eines der umstrittensten Patente, die die Behörde in München in jüngster Zeit erteilt hat. 65.000 Menschen haben im Internet einen Masseneinspruch unterzeichnet, organisiert von der Protestplattform Campact – so viele wie noch nie bei einem Verfahren vor dem Europäischen Patentamt. Sie alle protestieren dagegen, dass ein Konzern ein Patent auf Leben anmeldet. Dabei ist die Flavonol-Tomate nur ein Beispiel für viele Schutzrechte auf Pflanzen, die in den letzten Jahren erteilt wurden. Da gibt es etwa das Patent mit der Kennziffer EP 2140023: Paprika mit besonderer Resistenz gegen Bemisia-Fliegen. Angemeldet von: Syngenta Participations AG. Oder EP 1597965: Brokkoli mit hervorstehendem Kopf zur leichteren Ernte. Angemeldet von: Seminis Vegetable Seeds, Inc. Oder EP 1261252: Sonnenblumen mit besonderer Resistenz gegen Unkrautbekämpfungsmittel. Angemeldet von: E. I. du Pont de Nemours and Company. Und gerade prüft das Patentamt unter anderem, ob Äpfel mit Polyphenolgehalt zugelassen werden. Solche Früchte sollen für Allergiker besonders geeignet sein.

Die Patente wirken so skurril, weil man den Begriff mit Technik und Erfindergeist assoziiert, nicht mit grünen Blättern und roten Früchten. Und weil hier Exklusivrechte für Lebendiges aus der Natur vergeben werden. Doch neu ist die Idee nicht: Schutzrechte auf Pflanzen gibt es schon lange.

Das liegt daran, dass Pflanzen nicht nur Naturprodukte, sondern seit jeher auch Handelsgüter sind, die sich auf dem Markt durchsetzen müssen: Züchter versuchen, Kartoffeln so auszuwählen und miteinander zu kreuzen, dass immer bessere Sorten entstehen. Das ist eher Handwerk als Hightech, doch auch für diese traditionelle Entwicklungstätigkeit braucht es einen wirtschaftlichen Anreiz. Dazu dient der sogenannte Sortenschutz: Wer eine neue Gemüsesorte hervorbringt, darf sie exklusiv vermarkten und als Einziger das sogenannte Vermehrungsmaterial (Pflanzen und Pflanzenteile einschließlich Samen) an Landwirte verkaufen – und wird so für die Anstrengungen belohnt.

Das ist zunächst mal einem Patent nicht unähnlich und war ebenfalls nie unumstritten. Ein heikler Punkt sind zum Beispiel die sogenannten Nachbaugebühren, die Sortenschutzinhaber von Landwirten verlangen können: Wenn ein Bauer einen Teil der Ernte einbehält und wieder aussät, muss er zahlen. Die Pflanzenzüchter achten penibel darauf, dass das auch geschieht. Sie haben dafür die Saatgut-Treuhandverwaltungs GmbH gegründet, die Landwirte regelmäßig befragt, was gerade auf ihren Äckern wächst. Für diese Schnüffelei wurde die Saatgut-Treuhand 2005 sogar schon mit dem „Big Brother Award“ ausgezeichnet, ein von Datenschützern ausgelobter Negativpreis. Biopatente haben dagegen einen anderen Ursprung. Sie entstanden mit der Entwicklung der Gentechnik: Mit einem Mal waren Pflanzen noch mehr als nur Züchtungen vom Feld, sie waren mitunter komplexe Erfindungen aus dem Labor und wurden technischen Produkten damit ähnlicher. 1998 erließ die Europäische Union die sogenannte Biopatent-Richtlinie, die klarstellt, dass biologisches Material grundsätzlich patentierbar ist. Im Europäischen Patentübereinkommen heißt es allerdings einschränkend: „Pflanzensorten oder Tierrassen sowie im Wesentlichen biologische Verfahren zur Züchtung von Pflanzen oder Tieren“ sind von der Patentierung ausgeschlossen. Die Idee dahinter? Salopp gesagt: Was auf den Feldern gezüchtet wird, fällt unter den Sortenschutz. Für alles aus dem Gen-Labor gibt es das Patentrecht.

Merkwürdig ist, was das Patentamt aus dieser Vorgabe macht: In einer Grundsatzentscheidung kam es im März 2015 zu dem Schluss, dass klassisch gezüchtete Pflanzen und Tiere durchaus patentierbar sind. Ausgeschlossen ist das Verfahren, nicht das Ergebnis. Verwirrend? Ziemlich. „Logisch ergibt das keinen Sinn“, findet Christoph Then vom Bündnis „Keine Patente auf Saatgut“. Auch die Flavonol-Tomate von Syngenta entstammt konventionellen Methoden.

Manche glauben, dass die knifflige Auslegung einen simplen Grund hat: Das Patentamt verdient an den vergebenen Schutzrechten, die Gebühren sind eine der wichtigsten Finanzquellen. „Das Patentamt will grundsätzlich natürlich Patente ermöglichen und nicht verhindern“, sagt Alexandra Bönsch, Juristin beim Bundesverband Deutscher Pflanzenzüchter. Die sind alarmiert: nicht weil sie grundsätzlich gegen Schutzrechte auf Lebewesen wären – sondern weil sich Sortenschutz und Patent so gefährlich in die Quere kommen. Und damit das Geschäftsmodell mancher Züchter bedrohen.

Juristin Bönsch erklärt das Problem am Beispiel der Schrumpeltomate, einer wasserarmen Tomate, die sich besonders gut für die Ketchup-Produktion eignet. 2003 erteilte das Patentamt dem israelischen Agrarministerium das entsprechende Patent, registriert unter der Kennnummer EP 1211926. Käme die Tomate aus dem Labor, könnten die konventionellen Züchter damit vielleicht noch leben. Das Patent wäre allein der gentechnischen Raffinesse zu verdanken – einem Geschäftsfeld, auf dem klassische Züchter nicht aktiv sind. Die Gen-Tomate vermarktet der Patentinhaber, für alle anderen können Züchter ohne Labor immerhin noch Sortenschutz beantragen. Doch die Schrumpeltomate entstand durch die simple Kreuzung existierender Tomatensorten, ohne jede Gentechnik. Die Folge: Selbst wer seit Jahren schrumpelige Tomaten auf dem Feld hat, kann sie nun nicht mehr vermarkten. Das Patent wirkt damit so, als hätte Thomas Edison sich nicht die Glühbirne als Erfindung schützen lassen, sondern gleich das elektrische Licht.

Das Europäische Patentamt möchte sich nicht konkret zu diesem Szenario äußern und spielt den Ball weiter: Wie weit die Schutzansprüche reichen können, hänge auch von den Regelungen in den einzelnen europäischen Mitgliedsstaaten ab – die durchaus unterschiedlich ausfallen. Außerdem sei die Zahl der Patente auf klassisch gezüchtete Pflanzen gering: Gerade einmal 82 Schutzrechte habe die Münchener Behörde in den vergangenen 20 Jahren erteilt.

Beruhigend wirkt das auf die Kritiker kaum. Juristin Bönsch fürchtet, dass Biopatente dazu führen können, dass kleine Züchter durch unzählige Patentansprüche eingeengt werden und am Ende aufgeben müssen. Denn Patente sind eine Sache der Großen: Gebühren müssen entrichtet, Anwaltskanzleien beauftragt werden – Kosten, die viele Traditionszüchter sich nicht leisten können. Schon jetzt teilen einige wenige Großkonzerne den Saatgutmarkt unter sich auf, wie eine EU-Studie aus dem Jahr 2013 zeigt. Die EU-Kommission hat nun immerhin eine Klarstellung zu den Biopatenten angekündigt. Viele hoffen, dass dann endlich eindeutig wird, wofür das Patentamt Schutzrechte vergeben kann. Und was wachsen darf, wie es will.