Wie sich die Berlinale filmisch mit dem Thema Klimawandel auseinandersetzt, haben wir ja schon berichtet. Aber wie nachhaltig ist das Festival eigentlich selbst? Wie ist seine CO2-Bilanz? Das haben wir Johannes Wachs gefragt von der Arbeitsgruppe Nachhaltigkeit.
Die kurze Antwort: Es wird schon viel getan – aber es ist auch noch einiges zu tun. Konkrete Maßnahmen sind unter anderem der Verzicht auf Fleisch bei Empfängen sowie von Einwegbechern beim Getränkeausschank und im Pressebereich, der „grüne rote Teppich“ aus recycelten Fischernetzen und Teppichen. Seit 2013 ist die Berlinale mit dem EMAS-Gütesiegel der Europäischen Union für nachhaltiges Umweltmanagement zertifiziert.
Ökostrom wird „innerhalb des Einflussbereichs der Berlinale“ verwendet, und da wird es dann schon schwieriger. „Das gilt für Büroflächen, den Martin-Gropius-Bau und unsere Stromentnahme im öffentlichen Straßenland“, sagt Wachs. Die gemieteten Kinos entscheiden hingegen selbst, wie sie sich versorgen – wobei etwa das Theater am Potsdamer Platz, wo die Premieren im Wettbewerb stattfinden, Ökostrom verwendet.
Mit Strom fahren auch die dicken Audi-Limousinen, die unter anderem die Stars zum roten Teppich bringen – also ohne Abgase. Ob eine Marke aus dem VW-Konzern, einem bedeutenden Akteur im Dieselskandal, als Hauptsponsor die richtige Botschaft in Sachen Umwelt ist, das ist dann wieder eine andere Frage.
20.242 Tonnen CO2 verursachte die Berlinale 2014
Das größte Problem ist aber ein anderes: die vielen Flüge, wenn Filmleute, Journalist*innen und Besucher*innen aus aller Welt nach Berlin kommen. Eine Analyse des Öko-Instituts für das Jahr 2014 ergab, dass Anreise, Unterkunft und Transport der Gäste vor Ort für 92 Prozent der Gesamtemissionen der Berlinale verantwortlich waren – damals übrigens 20.242 Tonnen CO2. „Hier stößt man an Grenzen des Möglichen“, sagt Wachs. „Bei einer Veranstaltung, deren Wesenskern vom persönlichen Austausch der Besucher untereinander und mit dem Publikum bestimmt wird, ist es derzeit praktisch unmöglich, diesen Faktor wesentlich zu reduzieren.“ Andererseits werden viele Flüge wiederum gespart, weil sich sehr viele Filmschaffende an einem Ort treffen – statt sich über das Jahr verteilt gegenseitig einzeln zu besuchen.
Immerhin verzichten die Berlinale-Mitarbeiter*innen bei Dienstreisen innerhalb Deutschlands weitestgehend auf Flüge. CO2-Kompensationszahlungen für ihre Flüge sind geplant, für Festivalteilnehmer und Besucher nicht, weil die ihre Reisen auf eigene Kosten buchen.
Bleibt die Frage, ob die Digitalisierung Umweltvorteile bringt. Da bekomme man auch von Experten keine klare Antwort, so Johannes Wachs. Einerseits fällt der Transport von über 20 Kilo schweren Filmkopien weg. Andererseits kostet die Vorhaltung und Überspiegelung digitaler Daten sehr viel Strom. Eine wissenschaftliche Untersuchung über den Umweltvorteil digitaler Datenträger gibt es noch nicht. „Gefühlt würde ich sagen, dass die Digitalisierung an dieser Stelle einen ressourcenschonenden Effekt hat“, so Wachs.
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Und jetzt noch mehr Bilanz: unsere Greatest S/Hits der Berlinale 2019
Simone Ahrweiler
Greatest Hit: „Systemsprenger“ nötigt dem Publikum einiges ab – die Leidensgeschichte der neunjährigen Benni, die nicht mehr bei ihrer überforderten Mutter leben kann. Benni reagiert darauf mit unkontrollierbaren Wutanfällen und wird von einer Einrichtung zur nächsten geschickt. Man leidet, zuckt zusammen, kann das Gezeigte kaum Ertragen – weil das Szenario so schlimm und die Schauspieler so gut sind.
Greatest Shit: Männer, die auf Leinwände starren, werden mitunter sogar handgreiflich, wenn sich ein unbedarfter Journalist erdreistet, den angeblich reservierten Sitzplatz zu belegen. Der lautstarke Streit, der sich daraus entwickelte, war zwar letztlich aufregender als der nachfolgende Film, aber natürlich trotzdem total daneben.
Hat mich berührt: Folgerichtig: Helena Zengel als unberechenbare, aggressive und doch verletzliche Benni in „Systemsprenger“. Wer dieses wunderbare Mädchen nicht in sein Herz schließt, der hat keins.
Das habe ich gelernt: Die ultimative Berlinale-Experience: Drei Filme an einem Tag gucken. Ein Klassiker unter alteingesessenen Berlinale-Akkreditierten, dachte ich, das probiere ich dieses Jahr auch mal. Außer Kopfschmerzen hat mir diese Erfahrung aber nichts gebracht.
Michael Brake
Greatest Hit: „Der Boden unter den Füßen“ von Marie Kreutzer, der Film über eine junge aufstrebende Unternehmensberaterin, die neben ihrem Job auch noch die Betreuung ihrer paranoid-schizophrenen Schwester zu managen versucht und selbst dem Wahnsinn näher rückt. Die entsättigten Bilder, die Nicht-Orte der Businesswelt, die Fragilität der Ereignisse – das hat mir alles gut gefallen.
Greatest Shit: Mein schwächster Film war Fatih Akins „Goldener Handschuh“. Die schwächste Veranstaltung war eine Podiumsdiskussion mit Damon Gameau, dem Regisseur des Öko-Optimismus-Essayfilms „2040“. Das lag nicht an Gameau, sondern an den fünf Diskutant*innen, die mehr aneinander vorbeiredeten als miteinander. Und am oberpeinlichen Moderator, der die anwesenden Jugendlichen immer wieder fragte, ob sie die in Englisch geführte Diskussion auch verstünden, und ihnen sagte, sie dürften auch auf Deutsch fragen. Ich wollte die ganze Zeit aufspringen und rufen: „Digger, jeder Teenager in Deutschland, der zu so einer Veranstaltung kommt, spricht besser und akzentfreier Englisch als du!“ Hab ich dann aber doch nicht.
Hat mich berührt: Die Erzählungen von Frauen aus Timor-Leste über die Massenvergewaltigungen indonesischer Soldaten während der Besetzung im Kurzfilm „Memoria“.
Das habe ich gelernt: Dass der Mensch pro Tag 156 Millionen Tonnen Erde, Steine und andere Materie an der Erdoberfläche bewegt, die Natur aber nur 60 Millionen – in Nikolaus Geyrhalters Dokumentarfilm „Erde“.
Felix Denk
Greatest Hit: Ich hab’s zwar nicht so mit Rockmusik, aber PJ Harvey in Anne-Demeulemeester-Klamotten zuzusehen, wie sie ihr letztes Album aufnimmt, das war schon gut. Gern gelesen habe ich den Blog von Dietrich Brüggemann, der aus Sicht eines Regisseurs den ganzen Festivaltrubel beschreibt.
Greatest Shit: Meine fiebrige Erkältung, die diesmal zum Start der Berlinale und nicht wie sonst immer am Ende kam. Filmisch enttäuschend fand ich die Türsteher-Doku „Berlin Bouncer“, die zwar drei prägende Gestalten des Nachtlebens solide porträtiert, das Wesen ihres superautoritären, zur allabendlichen Gemeinschaftsbildung aber unerlässlichen Jobs rätselhafterweise kaum thematisiert.
Hat mich berührt: Wie in „Your Turn“ die Schüler in São Paulo auf die Straße gehen, damit ihre Schulen nicht geschlossen werden. Obwohl sie die ganze Zeit von der Militärpolizei verprügelt werden.
Das habe ich gelernt: Wenn ein Film aus China über die Kulturrevolution „aus technischen Gründen“ kurzfristig nicht laufen kann, wie bei „One Second“ von Zhang Yimou geschehen, dann stecken da vermutlich keine technischen Gründe dahinter, sondern einfach Zensur.
Christine Stöckel
Greatest Hit: „Der Boden unter den Füßen“. Psychische Erkrankungen sind leider immer noch ein Tabuthema. Viele Betroffene und Angehörige trauen sich deshalb nicht, öffentlich darüber zu reden. Der Film zeigt sehr gut, warum sich das ändern muss.
Greatest Shit: Ich habe wieder viel zu wenige Filme gesehen. Am Ende verbringt man doch mehr Berlinale-Zeit im Pressebereich am Laptop als im Kinosaal. Das muss ich im nächsten Jahr besser hinbekommen.
Hat mich berührt: Wie die „Knives and Skin“-Protagonistinnen im Chor ihrer Schule alte Popsongs aus den 80er-Jahren singen. Ich kann mich leider nicht mehr genau an die Songtitel erinnern. Wenn ihr’s tut, gern in die Kommentare schreiben!
Das habe ich gelernt: Dank der Retrospektive: noch mehr über feministische Bewegungen der 1960er- und 1970er-Jahre – wie sich Frauen zusammentaten und gegen männliche Machtstrukturen vorgingen. Damals wie heute ein wichtiges Thema.
Titelbild: Daniel Seiffert