Wenn Ulrich Sachße die Landschaft erklärt, dann blickt er nicht selten in verständnislose Gesichter. Seit mehr als vier Jahren leitet der Forstingenieur Führungen durch die Natur, für Schulklassen aus der Ruhrpottmetropole Essen. Die Kinder aus dem Süden der Stadt wüssten meistens noch ein bisschen mehr über die heimischen Arten als die aus dem Norden. „Im Süden ist es grüner“, erklärt Sachße. Doch der Norden scheint sich durchzusetzen.
Viele Schüler können weder Bäume noch Tiere benennen. „Manche glauben wirklich, dass Waldmäuse Käse fressen und Füchse so groß sind wie Grizzlybären“, sagt der Exkursionsleiter. Als die Kinder einmal Kühe malen sollten, wurde die Hälfte davon lila. Dass ein Reh nicht die „Frau vom Hirsch“ ist, wissen nur wenige. Den Unterschied zwischen Eiche und Buche kennt kaum jemand. „Wenn die Schüler von den Informationen, die ich ihnen vermittele, nur die Hälfte mitnehmen, dann reicht mir das“, sagt Sachße.
Die Erfahrungen aus dem Ruhrgebiet wiederholen sich täglich in ganz Deutschland. Den Grund sehen viele Forscher im steigen-den Medienkonsum der jungen Generation. Viele Kinder erleben Natur heute im „Dschungelcamp“ von RTL oder durch Entwicklungen der Softwareindustrie. „Sie kennen mehr Handyklingeltöne als Vogelstimmen und mehr Automarken als Wildtiere“, sagt Claus-Peter Hutter, Leiter der Umweltakademie Baden-Württemberg. Er und andere Experten sagen: Die Natur wird uns zunehmend fremd.
Konkret heißt das: Nur jeder dritte deutsche Schüler im Alter zwischen zwölf und 15 Jahren hat jemals einen Käfer oder Schmetterling angefasst, jeder vierte von ihnen hat noch nie ein Reh beobachtet. Immer weniger Jugendliche gehen Rad fahren oder paddeln. Das zeigen Ergebnisse des „Jugendreport Natur“, der auf Studien des Marburger Natursoziologen Rainer Brämer basiert und zuletzt 2006 veröffentlicht wurde.
Akademieleiter Hutter vermutet einen folgenreichen Wertewandel unserer Gesellschaft: „Früher wurde das Grundlagenwissen über Tiere und Pflanzen von einer Generation zur nächsten weitergegeben. Zum ersten Mal seit Jahrhunderten bricht das nun weg.“ Doch nur wer seine Umwelt kenne, gehe auch pfleglich mit ihr um.
Der Soziologe Rainer Brämer untersucht die Beziehung von Jugendlichen zur Natur. Eines seiner wichtigsten Ergebnisse: „Je häufiger die Kinder Medien nutzen, desto geringer ist ihr Naturinteresse.“ Laut „Jugendreport Natur“ besitzen schon 70 Prozent der Schüler in der sechsten Klasse einen eigenen Fernseher oder PC. Jugendliche verbringen wöchentlich rund 20 Stunden mit ihren Freunden vor dem Bildschirm. Schuld an der Entfremdung sei aber nicht nur der zunehmende Medienkonsum in den Kinderzimmern, sagt der Soziologe. Allgemein vergrößere sich die Distanz zu natürlichen Prozessen. Lebten 1994 noch 18,7 Prozent der deutschen Bevölkerung in kleineren ländlichen Gemeinden, sind es
heute nur noch 15,2 Prozent. Die Wege zu naturbelassenen Wäldern und Seen sind weit geworden. Und auch die Lebensmittel wachsen seltener im eigenen Garten, sie werden von Feldern und Gewächshäusern im Ausland in heimische Supermärkte geliefert. Weniger als die Hälfte der im „Jugendreport“ befragten Schüler weiß, aus welchen Pflanzen Rosinen oder Speiseöl hergestellt werden.
Die Schulen können diesen Mangel oft nicht durch Ausflüge in die Natur ausgleichen. Die in vielen Bundesländern vollzogene Verkürzung der Abiturzeit auf zwölf Schuljahre und ein ohnehin voll gepackter Stundenplan machen solche Aktionen kaum möglich. Zudem hätten andere Naturwissenschaften die Artenkunde aus den Schulbüchern verdrängt, kritisiert Umweltschützer Hutter.
Während der Nachwuchs zu Hause sitzt und am Computer spielt, so scheint es, haben die Erwachsenen Wälder und Wiesen wiederentdeckt. Viele Spazierwege sind derzeit überlaufen. Wandern, Klettern, Walken: Die Outdoor-Branche boomt. Gingen im Jahr 1995 lediglich 50 Prozent der Deutschen wandern, waren es 2004 schon 62 Prozent, wie Ergebnisse des Allensbacher Instituts für Demo-skopie zeigen.
„Erwachsene streben heute mehr zur Natur“, sagt Brämer, der in Marburg auch das Deutsche Wanderinstitut leitet. Bei Jugendlichen geht der Trend in die andere Richtung, sie vertreiben sich ihre Zeit immer lieber indoor. Das Durchschnittsalter der Wandersleute lag 2005 bei 48 Jahren.
Brämer interpretiert den Wanderdrang der Erwachsenen als „Ausbruch aus einer übertechnisierten Welt“ und als „Zeichen mentaler Erschöpfung“. In der Natur würden die Menschen wieder einen emotionalen Zugang zu ihrer Umwelt erleben, im Unterschied zur stark distanzierten Beziehung zu ihrer alltäglichen Umgebung in den Städten. Das steigere nicht nur die Kreativität, sondern auch das Bewusstsein für Nachhaltigkeit. Ohne Kontakt zur Natur, das predigen auch andere Fachleute, kann der Mensch nicht sein.
Roger Ulrich, Experte für Gesundheitsdesign an einer Architekturhochschule im US-Bundesstaat Texas, hat belegt, dass natürliche Umgebungen oder Parks sogar die menschliche Gesundheit fördern. Untersuchungen in Krankenhäusern haben ergeben, dass schon Blicke aus dem Fenster auf Grünflächen nach wenigen Minuten eine beruhigende Wirkung auf Patienten haben und ihre Stimmung verbessern. Vielen jungen Menschen fehlen jedoch Erlebnisse in der Natur. Der US-Journalist Richard Louv warnt daher vor der „Nature-Deficit Disorder“, einer mentalen und gesundheitlichen Störung bei Kindern, die durch mangelnden Kontakt zur Umwelt hervorgerufen wird.
Durch das Ignorieren der Natur schadet der Mensch also nicht nur der Pflanzen- und Tierwelt, sondern auch sich selbst, so folgern die Wissenschaftler. Fragt man Claus-Peter Hutter, dann steht letztlich sogar die Überlebensfähigkeit der Menschen auf dem Spiel: „Wer soll denn in Zukunft mal Feuer machen, wenn die Heizung ausfällt?“