„Die Opiumpflanze bereitet uns viele Probleme. Aber Allah sei Dank konnten wir Abhilfe schaffen.“ Mohammad Atta Nur zieht sich die Nadelstreifenhose gerade. Schon ziemlich lange sitzt er am Ende seines Audienzsaals auf einem thronähnlichen Stuhl mit Goldlehne, hinter sich einen in allen Regenbogenfarben schillernden Globus aus Lapislazuli. Auf dem – ebenfalls thronähnlichen – Stuhl neben ihm haben schon viele Gäste Platz genommen: Entwicklungshelfer, Militärs, Bundeskanzlerin Angela Merkel. Sie alle lobten den Gouverneur der Provinz Balkh in hohen Tönen für sein Engagement gegen die Drogen. Und ihnen allen schilderte er aufs Eindrucksvollste, wie er den Opiumanbau stoppen konnte. Punkt eins: Die Geistlichen predigen in den Moscheen gegen die Verderben bringende Pflanze. Punkt zwei: Die Sicherheitskräfte leisten ihren Einsatz. Punkt drei: Die Bundesrepublik hilft. Zum Abschied pflegt der Herr von Balkh den Partnern für diese Unterstützung und die exzellente Zusammenarbeit zu danken, „bei der es bisher nie Probleme gab“. Seitdem sich Deutschland Ende Dezember 2001 der internationalen Afghanistan- Schutztruppe angeschlossen hat, kämpfen seine Helfer zusammen mit der Uno und der afghanischen Regierung auch gegen die Drogen. Der deutsche Verantwortungsbereich erstreckt sich neben Balkh und anderen Provinzen bis zur tadschikischen Grenze – der Grenze, über die das Rauschgift aus Afghanistan stets seinen Weg in Richtung Westeuropa nahm.
Dort ist vor Kurzem eine hochmoderne Zollstation fertig geworden. Zufahrtstraßen führen die Lastwagen auf Rampen. Seilwinden ziehen die Fahrzeuge über den Scanner, auf einem Monitor wird der gesamte Inhalt eines Containers abgebildet. „Wir können sogar sehen, was in jeder einzelnen Zigarettenschachtel ist“, freut sich ein deutscher Ingenieur. Ziel der Anlage ist, den Schmuggel mit Drogen und anderen begehrten Waren zu unterbinden und Afghanistan durch engmaschige Kontrollen auch die für den Landesaufbau dringend nötigen Mittel durch Zölle zu sichern. Zwei Beispiele, die eigentlich Hoffnung machen sollten. Ein engagierter Gouverneur, eine neue Zollstation. Tatsächlich künden die offiziellen Zahlen von einer Erfolgsgeschichte: 2009 ging in Afghanistan die Anbaufläche für Opium um 22 Prozent zurück, die Produktion sank um weitere zehn Prozent. Erbrachte das Opium 2002 laut Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung noch 27 Prozent am afghanischen Bruttoinlandsprodukt, waren es 2009 nicht mehr als vier Prozent. In 20 von 34 afghanischen Provinzen wird heutzutage kein Opium mehr angebaut. Es geht voran, könnte die Botschaft lauten. Könnte. Wäre da nicht eine andere, irritierende Zahl: Afghanistans Anteil an der weltweiten Opiumproduktion beträgt laut UN-Drogenbericht 2010 fast 90 Prozent. Damit liegt der Marktanteil des Landes weit über dem zu Hochzeiten der international geförderten Rauschgiftkriminalität.
Haschisch und Opium für die kleine Flucht vor den strengen Regeln des Koran
Opium wird in Afghanistan seit Tausenden von Jahren angebaut. Früher wuchs es vor allem in den Nordprovinzen. Die eigentliche Volksdroge war aber landesweit Haschisch. Dessen Erfolg führen Historiker auf das Bedürfnis vieler Muslime zurück, angesichts der strengen Alltagsregeln des Islams eine gewisse Freiheit zu erlangen. Zwar verbietet der Koran Rauschmittel, doch Opium oder Haschisch sind im Gegensatz zum Alkohol nicht ausdrücklich verpönt. Zum internationalen Wirtschaftsfaktor geriet das Opium erst im 19. Jahrhundert durch den Handel, den die Britische Ostindien-Kompanie damit trieb. Nachdem die chinesische Regierung es verboten hatte, führte Großbritannien zwei sogenannte Opiumkriege, um sich den Profit mit dem populär gewordenen Rauschgift nicht entgehen zu lassen. In Afghanistan begann die Blütezeit des Giftes erst in den 1980er Jahren. Während das Land von den sowjetischen Truppen besetzt war, stachelte der US-Geheimdienst CIA die Produktion an, um durch die Erlöse die fundamentalistischen Mudschaheddin zu finanzieren, nach westlicher Lesart damals die „Freiheitskämpfer“.
Nach dem Abzug der Sowjets brach in den neunziger Jahren unter den unterschiedlichen Warlords ein Bürgerkrieg aus. Die Drogengeschäfte gingen rege weiter, schließlich brauchte jede der Konfliktparteien Geld für Waffen und für Kämpfer. Auch die Taliban – zunächst mit westlicher Rückendeckung angetreten, um das Land wieder zu vereinen – deckten ihren Geldbedarf immer wieder durch den Rauschgiftverkauf an die „Ungläubigen“. Als die USA nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 eine Koalition zum Kampf gegen den Terror schmiedeten, bedienten sie sich einer Fraktion der Bürgerkriegsparteien, der sogenannten Nordallianz. Dass viele von deren Führern mit Opium dealten, nahmen die westlichen Strategen dabei in Kauf. Man brauchte eben Verbündete. Gestützt auf diese „Nordallianzler“ konzipierte die westliche Staatengemeinschaft 2001 das neue Afghanistan. Nur: Beim sogenannten Nation Building, also beim Aufbau eines Rechtsstaats, blieb nun für deren traditionelle Geschäfte kein Platz. Wie hätte man den Bevölkerungen im Westen das Engagement für Drogenhändler schmackhaft machen sollen?
Die alten Haudegen, nun zu Staatsmännern und Politikern geadelt, verstanden die Botschaft und änderten ihr Auftreten – wie im Fall des Warlords Mohammad Atta Nur, der aber nur schwer von seinen alten Geschäften lassen konnte. Um auch in dessen Einflussbereich zentralstaatliche Strukturen durchzusetzen, entsandte der afghanische Präsident Hamid Karzai 2004 einen neuen Polizeichef, der prompt versuchte, einen von Attas Drogentransporten zu beschlagnahmen. Daraufhin mobilisierte der Milizenführer seine Truppen. Karzai lenkte ein und versöhnte den mächtigen „Paten“, indem er ihn zum Gouverneur ernannte.
Vom Opiumhändler zum anerkannten Gouverneur
Wie kaum ein anderer engagiert sich Atta heute bei der Vernichtung der Drogenanbaufläche in seiner Provinz Balkh. Aus guten Gründen: Die Hilfsgelder und Fördermittel, die ihm dank seiner Kooperation durch die Isaf-Staaten zufließen, sind noch weitaus lukrativer als die Einnahmen aus dem Opiumanbau. Als Partner westlicher Investoren in seiner Provinz hat Atta ein Netz aus Strohmännern und Scheinfirmen aufgebaut und profitiert direkt oder indirekt von beinahe allen Bau-Aufträgen und Entwicklungsmaßnahmen. Und als verlässlicher Partner des Westens kann er seine Hände nun umso besser über den Zwischenhandel mit dem Rauschgift halten. Beamte der deutschen Bundespolizei vermuten, dass Atta deshalb ganze Seilschaften seiner ehemaligen Milizen in die neu gebildeten Sicherheitskräfte eingeschleust hat. „Der Polizeichef, der am Flughafen von Mazar-i Scharif Dienst tut“, sagt ein Kommissar, der ungenannt bleiben möchte, „ist nur deshalb da, weil er Attas Drogengelder außer Landes schafft.“
Statt Opium zu erzeugen, ist der Norden nun zur gut organisierten ersten Etappe des Zwischenhandels geworden, dafür blühen die Felder aber nach wie vor im unsicheren, umkämpften Süden. Von dort – etwa aus Kandahar und Helmand – bringen die Taliban die heiße Ware dorthin und tauschen sie gegen die Waffen ein, die entweder aus Nato-Containern entwendet, über Tadschikistan aus Russland eingeführt werden oder die Milizenführer der Nordallianz noch immer in unzähligen Waffenlagern horten. Zudem setzen viele Produzenten nun anstelle des klassischen Opiums auf andere Rauschgifte wie Marihuana und Haschisch. Die neue Zollstation an der tadschikischen Grenze spielt bei der Ausfuhr eine wesentliche Rolle. „Sie sieht zwar gut aus“, klagt ein Bundeswehroffizier hinter vorgehaltener Hand, „ist aber weniger eine Einnahmequelle für den afghanischen Staat als für die zuständigen Provinz- und Zollbeamten. Die scheffeln horrende Gelder dadurch, dass sie die Schmuggelgüter durchlassen.“
Marc Thörner recherchierte zwei Jahre lang in Afghanistan über die Strukturen hinter den Kulissen des internationalen Einsatzes in Afghanistan. Er sprach mit Mullahs, Gouverneuren, Taliban und ließ sich bei unterschiedlichen Armeen „einbetten“. Dazu erschien sein Buch „Afghanistan Code. Eine Reportage über Krieg, Fundamentalismus und Demokratie“