„Du wärst noch besser, wenn du deine Töne binden würdest.“ „Konzentrier dich nicht nur auf die Kehle. Schöpf die Energie doch aus dem Bauch.“ „Heb deine Hand zum Ohr. Auf diese Weise erreichst du einen Monitor-Effekt und hörst dich selber …“ Der junge Mann im engen Glitzer-Outfit nickt, lächelt, dreht verlegen das Mikrofon in den Händen herum, dankt für die Tipps. Seine Juroren sind ehrwürdige Herren mit Schiebermützen, grau melierten Haaren und Brillen. Nur die Frau in der Jury sticht heraus – mit viel Make-up, künstlichen Wimpern und schwarz umtuschten Mandelaugen. Anders als die drei Männer steht sie am Ende ihres Statements plötzlich auf, strahlt in die Kamera und singt eines ihrer Lieder, die sie berühmt gemacht haben. Der ganze Saal ist aus dem Häuschen und klatscht begeistert mit.

„Afghan Star“ heißt hier die Entsprechung zu „Deutschland sucht den Superstar“, doch singen die Bewerber hier kaum moderne Popsongs, sondern vor allem traditionelle afghanische Lieder – die sich eng an der indischen Musik orientieren, mit Tabla-Trommeln und Sitar, der indischen Laute mit den metallisch nachhallenden Saitenklängen. Einen Krawallmacher wie Dieter Bohlen, der die Kandidaten vor laufender Kamera runterputzt, gibt es auch nicht. Vielleicht ist es besser so in einem Land, in dem Gewalt gegen Andersdenkende an der Tagesordnung ist.

Während die deutsche Kandidatensuche der Belustigung dient, ist diese Art Show im Vielvölkerstaat Afghanistan immer auch ein Stück Politik.

Im Wohnzimmer von Achmed, einem in Hamburg lebenden Exil-Afghanen Ende 30, läuft der Fernseher, und die Familie nimmt interessiert zur Kenntnis, dass die meisten Sänger Hasara sind. Usbeken, schön und gut, von ihnen leben sehr viele im Norden Afghanistans, Seite an Seite mit den Tadschiken. Paschtunen stellen von jeher die Mehrheit im Land. Aber Hasara? Sie gehören zu einer Minderheit, die immer wieder verfolgt wurde. Von den meisten Afghanen unterscheiden sie sich durch ihre asiatischen Gesichtszüge, viele von ihnen sind Schiiten, gehören also zu einer Gruppe, die weltweit nur rund zehn Prozent aller Muslime ausmacht. Unter den Top Ten von „Afghan Star“ sind sie überproportional vertreten. Und der Letzte, der den Wettbewerb gewann, war ein Hasara. In dem zerrissenen Land ist das für viele Anlass für Verschwörungstheorien.

Manche Afghanen bezeichnen die Show als „eine der besten Waffen gegen die Mullahs und Taliban“

Auch Achmed, der Tadschike ist, hat eine Ahnung, warum der Sender die Schiiten bevorzugt: „Afghan Star“ läuft auf Tolo TV, dem populärsten Sender des Landes mit einem Marktanteil von rund 45 Prozent. Tolo TV gehört Exil-Australiern und erhielt 2004 Gelder von der staatlichen US-amerikanischen Hilfsorganisation USAID. Die Taliban sind meist Paschtunen – und damit alte Feinde der Hasara. Für Achmed steht fest: Die Amerikaner wollen die Rückkehr der paschtunischen Taliban verhindern, indem sie ihre Gegner fördern.

„Mach mal halblang!“, ruft Achmeds Frau Mahsa Taji aus dem Nebenzimmer und erklärt ihre Sicht der Dinge: Afghanistan habe sich ganz einfach verändert. Trotz allem, was man in den Medien tagtäglich höre von Bomben, Taliban und Terror gegen Frauen. Es sei eine Art Öffentlichkeit entstanden, in der ethnische Zugehörigkeiten keine Rolle mehr spielten. Formate wie „Afghan Star“ trügen dazu bei. Es gehe nicht darum, welchem Stamm jemand angehöre, sondern wer der Bessere sei. Und wenn die Leute direkt, per SMS, ihr Votum abgeben – ist das nicht eine Übung in Demokratie? „‚Afghan Star‘ ist subversiv“, sagt Mahsa. „Eine der besten Waffen gegen die Mullahs und die Taliban.“

Die sehen das offenbar genauso. Seit Beginn der Show im Jahr 2005 erhielten Frauen, die bei „Afghan Star“ mitmachten, immer wieder Morddrohungen. Weil sie beim Singen tanzten – wie Setara Hussainzada, eine Tadschikin aus Herat. Während einer der ersten Staffeln von „Afghan Star“ rutschte ihr beim Tanzen zudem das Kopftuch auf die Schultern. Bereits am nächsten Tag stachelten Geistliche die Empörung gegen die Sängerin an. Weil Herat so etwas wie das spirituelle Zentrum Afghanistans ist, verfügt der sogenannte Rat der Religionsgelehrten über viel Einfluss. Sein Vorsitzender tritt für den in Saudi-Arabien beheimateten Wahhabismus ein – eine islamisch-rigorose Glaubenslehre – und sorgte dafür, dass alle öffentlichen Musikdarbietungen als „unislamisch“ verboten wurden, auch Theater- und Kinoaufführungen.

Etwa zur gleichen Zeit, als die Mullahs die „Afghan Star“-Bewerberin zur Unperson erklärten, versuchten Achmed und Mahsa gerade, ein Kino in der Stadt zu eröffnen, und wurden, wie die Sängerin, der Gotteslästerung bezichtigt. Achmed und seine Frau flohen aus Herat und gelangten im Anschluss an ihre Odyssee durch mehrere Länder nach Deutschland, das ihnen politisches Asyl gewährte.

Viele tolerantere Afghanen fragen sich, warum sich die Regierung von Präsident Hamid Karzai nicht mehr für die Freiheit einsetzt, obwohl sie doch genau für diese Aufgabe große Summen aus dem Ausland erhält und die Unterstützung internationaler Truppen bekommt. In den Augen seiner Kritiker tritt Karzai nach außen als Staatschef eines demokratischen Landes auf, im Land selbst aber setze er die konservativen Geistlichen für sich ein. „Wenn er einen politischen Gegner loswerden will, dann sagt er nicht: Du störst mich, also verschwinde aus dem Land. Er sagt: Ich habe nichts gegen dich, aber leider sprechen sich die Geistlichen gegen dich aus ...“, erklärt Achmed. Und wenn die dann eine Sängerin wie Setara verdammten, könne Karzai nicht einmal daran denken, etwas dagegen zu sagen.

Was in Deutschland zur Belustigung dient, ist im Vielvölkerstaat Afghanistan immer auch ein Stück Politik, weil die Menschen lernen, andere Volksgruppen zu respektieren

Harun aus Mazar-e Scharif, der größten tadschikisch geprägten Stadt im Norden des Landes, ist immer über Skype zu erreichen. Der Student arbeitet nebenbei als Dolmetscher und Begleiter für ausländische Journalisten. Auf Tolo TV verpasst er kaum eine Folge von „Afghan Star“. Wenn es ans Abstimmen geht, stimmt er per SMS vorwiegend für die Tadschiken unter den Bewerbern. Gegen Frauen auf der Bühne hat er nichts, „solange sie sich nicht unzüchtig bewegen“. Die Sache mit Setaras Haaren? Für ihn nicht der Rede wert.

Wieso machen die Religionsgelehrten überhaupt so einen Aufstand wegen der Musik? Nicht die Religionsgelehrten an sich, meint Harun. Die Intoleranz gehe von den Paschtunen im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet aus, genauer gesagt von den Radikalen, die in den 1980er-Jahren vom Westen und Saudi-Arabien systematisch unterstützt wurden, um gegen die Sowjetunion zu kämpfen. „Seitdem führen die bei uns das Wort. Dabei hat der afghanische Islam nichts gegen Musik.“

Postwendend schickt Harun den Link zu einem Video. Aufnahmen aus der Blauen Moschee, dem größten islamischen Heiligtum Afghanistans. Dort soll Ali, der Schwiegersohn des Propheten, beigesetzt sein. In einem Gebetsraum bewegt sich ein Dutzend Männer im Kreis: Alte und Junge, Bärtige und Unbärtige wiegen sich in den Hüften, singen eine Art Litanei. Tanz und Gesang in der Moschee? Und das mitten in Afghanistan? Reine afghanische Tradition, erläutert Harun: Mystiker, die sich mithilfe der Musik in Trance versetzen, um Gott näher zu sein.

Angesichts der musikalischen Tradition, der Nähe von Singen und Leben, ist der Erfolg von „Afghan Star“ nicht verwunderlich. Dennoch fragen sich viele Fans, wie lange sie die Sendung noch sehen können. „Vermutlich“, sagt Mahsa in ihrem Exil in Hamburg, „wird ‚Afghan Star‘ ab 2014 nur noch im Exil produziert werden.“ Dann nämlich, wenn sich die Hardliner aus Herat weiter Gehör verschaffen. Dabei war Herat einmal das Zentrum der afghanischen Kultur gewesen, die Stadt der Literatur, Dichtkunst und Musik. Mahsas Großmutter pflegte nicht vor religiösen Eiferern zu warnen, sondern zu sagen: „Pass auf, sonst stolperst du über einen Sänger oder Poeten.“ So gesehen verbindet „Afghan Star“ beides: Moderne und Tradition.