Wenn im Kino etwas reichlich zur Verfügung steht, dann ist es Zeit. Sie ist gewissermaßen das Rohmaterial, aus dem Filme entstehen. Erst die Zeit macht eine Geschichte, ihre Figuren, Orte und Milieus erfahrbar. Menschen gehen zudem aus den unterschiedlichsten Gründen ins Kino: um die Zeit zu vergessen, um eine gute Zeit zu haben – oder um für die Dauer eines Films in eine andere Wirklichkeit einzutauchen, die den Charakteren durch genaue Beobachtungen nahe kommt, ohne sie zu erdrücken, ihre Lebensumstände beschreibt, ohne sie zwangsläufig erklären zu müssen und so die Komplexität sozialer Beziehungen – innerhalb der Familie, aber auch in einer Gesellschaft glaubwürdig abbildet.

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cms-image-000042302.jpg (Foto: © Universal Pictures)
(Foto: © Universal Pictures)

Der Rhythmus des Lebens

Richard Linklaters neuer Film "Boyhood", der vom Heranwachsen eines Jungen erzählt, wird diesen Ansprüchen mit spielerischer Leichtigkeit gerecht. Er lässt die Zeit, fast drei Stunden, vergessen und geht eine Beziehung mit seinen Figuren ein, die eine fast dokumentarische Qualität besitzt. Mason, seine Schwester Samantha und ihre getrennt lebenden Eltern Olivia und Mason Sr. wirken dabei nie wie Charaktere aus einem Drehbuch. Linklater hat die Dramaturgie seiner Geschichte nicht an erzählerische Konventionen gebunden, bei ihm steht die biografische Erfahrung im Fokus. Über zwölf Jahre zogen sich die Dreharbeiten an "Boyhood" hin. Mit dieser ungewöhnlich langen Produktionszeit (das Team kam einmal im Jahr für drei bis fünf Drehtage zusammen) ist der Film auch für seine Beteiligten zu einer biografischen Erfahrung geworden. Die Darsteller sind mit ihren Figuren gealtert beziehungsweise erwachsen geworden. Die Zeit ist in "Boyhood" immer auch ein ebenbürtiger Protagonist.

Besonders an diesem Film ist, wie großzügig Linklater mit der Zeit umgeht. Gerade US-Filmemacher verwechseln die oberste Maxime des Kinos "Du sollst nicht langweilen!" gerne mit dem Zwang zum "ökonomischen" Erzählen. Mason, die Hauptfigur in "Boyhood" ist zu Beginn des Film sechs Jahre alt und hat am Ende die High School abgeschlossen. Der Film endet also mit dem im Titel bezeichneten Lebensabschnitt und verweist damit auch auf sein Thema, das Erwachsenwerden. Interessanterweise verzichtet Linklater dabei auf die üblichen Stationen eines jugendlichen Übergangsritus. Statt die Erfahrung der Adoleszenz dramatisch zuzuspitzen, misst er jenen scheinbar beiläufigen Situationen Bedeutung bei, die in einer traditionellen Kinoerzählung dem Prinzip der Verdichtung zum Opfer fallen würden. Die Kindheit ist bei Linklater kein überhöhter, beschützter Ort. Die Beliebigkeit der Situationen, in die der Film mit seinen Figuren eintaucht, macht vielmehr deutlich, dass das Erwachsenwerden ein schleichender Prozess ist, den der Film mit seiner fließenden Bildmontage, die wunderbar beiläufig durch die Jahre streift, nachzuahmen versucht. Mit "Rhythmus des Lebens" hat Linklater diese Bewegung beschrieben.

Es ist immer jetzt

So gelingt "Boyhood" das Kunststück, stets im Moment der Erzählung präsent zu sein und gleichzeitig seine Zeitzeugenschaft zu behaupten. Epische Ausschweifung und Intimität finden zu einer mühelosen Balance. Überhaupt leidet Linklaters Langzeitbeobachtung, die erzählerisch wie logistisch selbst seine "Before"-Trilogie (Before Sunrise, Before Sunset, Before Midnight) in den Schatten stellt, nie unter seiner eigenen Ambition. Im Gegenteil kommt in der Inszenierung stets eine Bescheidenheit zum Ausdruck, die zum unangestrengten Realismus seiner episodenhaften Erzählung beiträgt. „Boyhood“ ist in erster Linie ein Film über zwischenmenschliche Beziehungen. Linklater zeigt, wie eine Patchwork-Familie den Alltag bewältigen muss. Mutter Olivia ist alleinerziehend, bei der Wahl ihrer Lebenspartner hat sie kein glückliches Händchen. Sie ist aber die treibende Kraft des Films, hin und hergerissen zwischen Mutterrolle und dem Wunsch nach Selbstverwirklichung. Mason Sr. wird dagegen bis zum Schluss ein Kindskopf und Gelegenheitsvater bleiben – auch wenn er noch einmal, diesmal mit etwas mehr Glück, eine zweite Familie gründet.

Wie natürlich vor allem Ellar Coltrane sich über zwölf Jahre die Rolle Masons anverwandelt, lässt eine gewisse Wahrhaftigkeit in Linklaters Methode vermuten. Coltrane spielt in seinen Teenager-Jahren einen Charakter, der Teil seiner eigenen Sozialisation wird. Dieser realistische Effekt schlägt sich in "Boyhood" auf vielen Ebenen nieder: in den popkulturellen Bezügen (am Anfang ist auf der Tonspur "Yellow" von Coldplay zu hören, zwölf Jahre später läuft im Radio Daft Punks "Get Lucky"), aber auch im Umgang der Darsteller miteinander, deren Beziehungen im Lauf der Jahre ebenfalls einem Wandel unterliegen. So wird "Boyhood" zu einer permanenten Momentaufnahme, und ist gleichzeitig eine Familienchronik ohne autoritäre Erzählerstimme. Diese Offenheit für zwischenmenschliche Prozesse zeichnet dieses einzigartige Film- und Zeit-Experiment aus. Denn die Zeit ist wie das Leben nicht zu kontrollieren. Linklater hat auf die schöpferische Kraft der Zeit vertraut. Das ist zunächst ein sehr unfilmischer Ansatz. Aber in seinen Händen wird daraus eine prägende Kino-Erfahrung.

Boyhood, USA 2014, Buch & Regie: Richard Linklater, mit Ellar Coltrane, Patricia Arquette, Ethan Hawke, Lorelei Linklater, Tamara Jolaine u.a., ab 6, 166 min, Kinostart: 5. Juni 2014 bei Universal